20. Mai 2015

Everesting am Mortirolo - 14.000 Höhenmeter mit dem Rennrad. Mit drei Rennrädern.

Wir waren als Team für die aktuelle Rennrad-Saison lange auf der Suche nach einer ganz neuen Herausforderung. Nach Abwechslung. Und vor allem, nach einer neuen Art, Spaß auf unseren geliebten Carbon-Maschinen zu erleben. Wir mussten nicht lange suchen:


Everesting - unsere Saison mit Euch.


Everesting, das ist das Befahren ein und der selben Steigung, bis man die Höhenmeter des Mount Everest zusammen hat. Das macht dann gleich mal 8.848 hm, die man sich innerhalb von 24 Stunden erfahren muss. Eine wunderbare Herausforderung: So klar, so einfach. Und doch so hart. Und natürlich auch erstmal unendlich weit weg - 8.000 Höhenmeter, das ist uns von Anfang an klar, schafft man nur in einem wirklich austrainierten Zustand.

Everesting #1 am Mortirolo: Für Sie getestet von Patrick, Heiko und mir.

Uns ist dabei etwas anderes viel wichtiger: Wir nutzen die Sponsoren-Mittel um Euch zu treffen: Wir wollen als Team nicht irgendwo Rennen fahren und Euch hier bunte Berichte abliefern. Die gibt es hier mittlerweile schon von über 30 solcher Events. Wir wollen gemeinsam mit Euch zu den legendärsten Steigungen, den Bergen, die wir vielleicht noch nicht in unserer Sammlung haben, die wir immer mal schon befahren wollten, die wir erobern wollen - und dieses mit Euch durchziehen. Es geht uns um Spaß. Die Freude an der Herausforderung, die Zeit, die wir an einem verlängerten Wochenende miteinander verbringen können - und natürlich irgendwo auch um das Erreichen einer persönlichen Grenze. Ganz egal, ob diese Grenze dann bei 8.848 Höhenmeter, bei 4.000 hm oder nur bei 2.000 hm liegt. 

Nachdem ich die Radsport-Legende Udo Bölts für ein interessantes Interview zu seinen Erfahrungen mit dem Mortirolo gewinnen konnte hier geht es zu diesem Beitrag und mir einer der Strava-Leader am Mortirolo-Segment ebenfalls einige Fragen beantwortet hatte, war ich gespannt wie ein Flitzebogen, wie es mir selbst, meinem Teamkollegen Heiko und unserem Gast, Patrick, so an diesem Berg ergehen würde, vor dem alle nur ehrfürchtig das Stimmenflattern bekommen.

Beim ersten Event - voll organisiert inkl. Bus-An/Abreise, Hotels und Verpflegung - wollen wir noch nicht am ganz großen Rad drehen und laden erst einmal nur 2 Gäste ein. Leider kann einer der beiden wenige Stunden vor der Abreise aus persönlichen Gründen dann doch nicht mit (Schade, Axel, Du hättest sicher Deinen Spaß gehabt!), aber wenigstens Patrick, 30-jähriger Radsport-Freak aus Lindau, steigt zu uns in den Bus. Mortirolo? Kann kommen!


Grosio. 3 Uhr morgens.


Ich habe das Gefühl, dass mich ein Pferd tritt, als wie verabredet pünktlich um 3 Uhr morgens das Handy losgeht: Aufstehen! Everesting-Time! Wir hatten es gestern nach 11 Stunden Anreise zwar sehr früh, noch vor neun Uhr abends, ins Bett geschafft, aber wie das so ist, hatten weder Heiko noch ich vernünftig Schlaf gefunden - dabei sah das am Abend noch ganz gut aus: Gähnend aber glücklich fallen wir, nachdem wir uns noch eine Stunde lang im riesigen Jacuzzi und den drei Saunen des Hotels eingeweicht hatten, in die Falle. Nützt aber alles nichts: 3 Uhr! 


Ich glaub´, mich tritt ein Pferd! Um 3 Uhr aufstehen? Harte Prüfung, dieses Everesting!

Ich schaue aus dem Fenster: Es ist noch stockdunkel. Was schlimmer wiegt, durch die Kegel der fahl-gelben Straßenbeleuchtung ziehen dicke Schwaden eines Sprühnebels, der so saturiert ist, dass er bei Kontakt mit etwas sofort abregnet. Die Straße ist klitschenass. Rutschig. Ich sehe es sofort, das sind keine wirklich schönen Bedingungen für das Rennrad. Der Mortirolo ist einer der, sagen wir es mal so, steileren Berge. Und bei 11, 12, 15 Prozent Gefällte habe ich sicher keine Lust, mich völlig nass durch eiskalten Nebel auf rutschiger Fahrbahn nach unten zu bremsen. Heiko stimmt mir zu.

Wir stehen trotzdem auf, ziehen uns an und - die freundliche Hotelchefin hatte mir Zugang zur Küche gewährt und mich eingewiesen - sitzen wenig später im Restaurant und frühstücken.


Kalt, dicker nebel, Schmierseife auf dem Belag. Lieber safe,
heute purzeln hier eh keine Rekorde. 

Wie beschließen gemeinsam mit Patrick noch ein Stündchen auf den Zimmern zu bleiben, zu versuchen, noch einmal kurz die Augen zu schließen, den Puls etwa in die Nähe von Lebend-Niveau zu bekommen und vor allem, abzuwarten, dass die ersten Sonnenstrahlen des vorhergesagten Kaiserwetters die Straße abtrocknen würden. Dann starten wir halt nicht um 5 Uhr, sondern um 7 Uhr. 

Dass hier heute weder ich selbst, noch Heiko und auch Patrick nicht die 8.000 hm-Marke knacken würden, ist uns allen klar. Die eine Stunde wird nicht reinhauen. Wohlwissend: Wer beim Everesting ambitioniert ist und sich den höchsten Berg der Erde erfahren will, der hätte das durchziehen müssen. 
Als ich 120 Minuten später wieder vom Balkon schaue, strahlt mich ein blauer Himmel an, zwitschern Vögel im nahen Park ein fröhliches Lied und scheint mir eine Morgensonne entgegen, dass es kein Halten mehr gibt. Wir alle sind heiß, es kribbelt. Los gehts!


Unser Everesting-Basecamp am Anstieg des Mortirolo.


Grosio, wo wir unser Hotel haben, ist eine der Aufstiegsmöglichkeiten zum Pass. Den können wir jederzeit sehen, da unser beschauliches Dörfchen genau zu Füßen des Berges liegt. Wir haben uns bewusst für die Auffahrt ab Grosio und gegen den - ebenfalls nahe gelegenen - "klassischen" Anstieg ab Mazzo entschieden. Mazzo gilt als die härteste Variante, was an sich okay für mich gewesen wäre, wenn mir nicht noch Christina, die seit einigen Tagen in der Gegend um Bormio wieder für das RATA trainiert, eine SMS geschrieben hätte: "Mazzo wegen Asphalt-Arbeiten gesperrt. Ihr kommt aber durch die Schranke." Ja, mag sein. Aber frischer Asphalt dünstet noch Tage und Wochen schmieriges Öl aus - Fahren wie auf Seife? Bei extremem Gefälle? Wir entscheiden uns für Grosio.

Kurz nach 6 Uhr sieht die Welt schon ganz anders aus.

Was ein Glücksgriff ist. Denn die Variante ab Grosio gilt ebenfalls als hart (wenn auch im unteren Teil nicht ganz so mörderisch) und hat zudem den Vorteil, wie wir später feststellen werden, dass hier nicht ganz so viel Verkehr anzutreffen sein wird. Es werden vor allem Motorradfahrer sein, die uns zu Hauf überholen werden. Aber auch der eine oder andere Schweizer Ferrari-Club und natürlich die lokalen Bergbauern, die in dichten, blauen Dieselqualm gehüllt mit ihren Traktoren nicht viel schneller als ein Rennrad die 15%-Rampen hinauftuckern. Die letzten 3 Kilometer sind Mazzo- und Grosio-Auffahrt dann sowieso identisch.

Wir beladen unser Teamauto - selbstverständlich schlafen die Rennräder bei uns im Hotelzimmer - und fahren keine 500 Meter zum Beginn des Anstieges. Unsere Herzen schlagen sofort schneller ...


Rennräder verladen - los gehts. Auf zum Mortirolo!

Das Basecamp am Anstieg ist sogar ganz clever - wettergeschützt unter der Autobahn, die sich auf Betonstelzen durchs Tal schlängelt, parken wir den Caravelle und sind dann sogar noch vor eventuellem Regen geschützt, der für heute Gottseidank nicht angesagt ist. Während sich Patrick umzieht, bereiten Heiko und ich im geräumigen Kofferraum unser Büffet zu: Gurken werden aufgeschnitten, Brote, Bananen, Nüsse, Chips, Gummitiere, Wurst, Käse und allerlei Sports-Nutrition werden arrangiert, Wasserflaschen, Säfte und Cola bereit gestellt.

Zwar wollen wir die erste Auffahrt zusammen fahren, schon allein, um unser aller Premiere an diesem Berg gemeinsam zu erleben (und für mich zum Fotos machen), aber wir denken uns ein sicheres System aus, wie jeder alleine jederzeit den Transporter öffnen und wieder abschließen kann, sodass wir später unseren eigenen Stiefel fahren können. Im Basecamp ist nach einer Viertelstunde alles bereit.


Regengeschütztes Basecamp - der Kofferraum ein riesiges kaltes Büffet.

Dann kümmern wir uns um unsere Rennräder. Ich bin als Rennrad-Fan immer sehr auf die Maschinen unserer Gäste gespannt und so schmerzt es mal wieder, dass Axel leider nicht am Start sein kann. Dafür holt es das auf Campagnolo EPS ausgerüstete Look 956 von Patrick wieder raus: Ein schickes Teil! Interessant finde ich sein Ritzelpaket - hinten dreht sich ein mächtiger 29er-Pizzateller, angetrieben von einer Kompakt-Übersetzung vorn. Sicher nicht die uncleverste Wahl am Mortirolo - allerdings nach meinem Empfinden auch nicht unbedingt der Megavorteil meinem 28er-Ritzel gegenüber.


Heiko und ich gehen wie gewohnt mit unseren Cervélo S5 an den Start, die wir beide auf Kompakt und eben jene 28er-Kassette umgerüstet haben, um gut die Berge hochzukommen. Noch glänzen die Carbon-Oberflächen schön in der Morgensonne ... 


Kompaktübersetzungen und große Ritzel sollten beim Everesting
Pflicht sein.

Da ich vor 3 Stunden im Hotel außer Kaffee und einem Ei nichts herunterbekommen habe und es den anderen wohl auch so ergangen ist, stürzen wir uns gleich mal auf das Büffet und frühstücken im Stehen. Ich drücke mir zwei Brotstullen dick mit Schinken belegt rein, esse eine Banane und einen Power-Riegel, Heiko pinkelt noch schnell in den nahen Busch, Patrick reckt sich - auf gehts?!


Es geht los! Die Steile ruft ...


Wir haben besprochen, dass wir die erste Auffahrt gemeinsam machen. Mich interessiert, wie die beiden diesen Berg empfinden, was sie bewegt, was sie fasziniert, wie sie die Steigungen kommentieren. Ich möchte so viel wie möglich Stimmung einsammeln und Stimmen abspeichern. Fotos machen - na klar! - und deshalb vereinbaren wir den Paarflug bei der ersten Auffahrt. Die Strecke kennenlernen (denn wir können schon sehen, dass zum Beispiel der Asphalt mies ist), vorsichtig die erste Abfahrt meistern, sich die neuralgischen Stellen versuchen zu merken.

So sieht ... äh ... vorfreudige Erwartung aus ...

Als wir alle fertig gegessen haben, die Klamotten sitzen, Schuhe gebunden und Helm justiert ist, klicken wir ein: 6 Uhr 49 Minuten, die erste Auffahrt beginnt!

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich diesen Moment herbeigesehnt habe: Endlich hier am Mortirolo, endlich auch mal diese Steigung, vor der sie alle nur ehrfürchtig grinsen und in "harten" Erinnerungen schwelgen, selbst machen! Bei meinem RATA-Einsatz vor zwei Jahren muss ich auf der anderen Seite des Berges im Aprica-Pass aussteigen - Mortirolo wäre der nächste Berg gewesen. Heute also meine Premiere, unsere Premiere. Ich könnte jodeln und jauchzen!

Die erste Kehre ist wenig spektakulär, ebenso, wie der ganze Berg hier unten in Grosio. Eine schmale, unscheinbare Straße - ein Sträßchen - verschwindet in einer Rechtskurve steil ansteigend in dichtem Wald. Das war es auch schon. Man sieht nichts, auch weiter oben im Hang keine Anzeichen, wohin uns das schmale Asphaltband führen wird. Sofort zieht es an, wir kurbeln in das Grün - guter Dinge, lachend. Noch macht uns die Steile nix aus. Wir sind einfach nur froh, dass es endlich losgeht.


Mortirolo Understatement - das ist der Beginn der legendären
Auffahrt. Schmucklos. Keine Sorge, das kommt alles noch ...

Der erste Kilometer geht denn dann auch relativ behaglich los. Im Schnitt, so steht es alle 500 Meter an Infoschildern, erwarten uns hier keine 8 Prozent Steigung, in den Spitzen wird es nicht steiler als 12 Prozent. Alles kein Thema. Dennoch: Wie schnell wir an Höhe gewinnen, schon nach ein, zwei Kilometern, können wir immer wieder gut beobachten, wenn der Wald einen kurzen Blick auf das unter uns im Tal liegende Grosio frei gibt.

Wir können zu dritt nebeneinander fahren, dann ist die Fahrbahn aber auch schon voll. Sehr, sehr, schmal haben sie die Straße hier gebaut. Ich mache eine geistige Notiz: Beim Abfahren wirklich extrem aufpassen! Bei Gegenverkehr bleibt hier absolut null Spielraum für Manöver. Und es wird eine Menge Gegenverkehr geben! Fürs Erste aber, noch ist es sehr früh, sind wir hier scheinbar die einzigen Verkehrsteilnehmer.


Der Mortirolo beim ersten Aufstieg: Adrenalin vernebelt die Sinne.


Nach zwei Kilometern zieht es merklich an. Das lange Geradeausstück wird durch zwei, drei Kehren, die schon mal recht giftig werden, wieder in die andere Richtung am Berg gelenkt und mittlerweile ist ein Hochschalten nicht mehr drin: Wer hier wie wir öfter hoch will, der sollte mindestens jetzt schonend fahren. Und das heißt, langsam, rhythmisch auf dem größten Ritzel kurbeln.

Wir unterhalten uns locker, ich fahre um die Jungs herum, steuere mit einer Hand und versuche, Fotos zu machen. Was schwierig ist: Es ist schon merklich steil, Fotoapparat halten, Bild suchen, ruhig halten und dabei stetig treten und mit einer Hand im Anstieg sicher steuern ... eine Herausforderung. Viele Fotos sind am Ende leider zu verwackelt.

Das ist kein Rennen hier: Also nicht hetzen!

Immer weiter zieht sich die dünne Asphaltschlange in den Berg. Steil in die Flanke geschlagen die Fahrrinne, unter uns wabern dünne Wolkenfetzen im Tal, weiter weg scheint die Sonne schon in die Abhänge der grünen Berge, ganz hinten mächtige Zinnen schneebedeckter Giganten. Ich drehe mich um - kann man den Stelvio von hier aus sehen? Ich bin zu aufgedreht, um mich zu konzentrieren.

Das Schöne am Everesten, das merken wir drei sofort, ist der fehlende Druck, den man bei einem Renn-Event immer hat. Unsere Adrenalinspiegel mögen gleich hoch sein, aber hier drängelt kein Peloton, ziehen keine Gruppen die Körner, hetzt keine tickende Uhr und ein Time-Out zum Finish. Wir können entspannen. Schwer arbeiten - ja, aber eben nicht gehetzt. Eine ganz neue Art, Rennrad zu fahren. Ich mag es. 

Immer wieder weichen wir Schlaglöchern, erodierten Asphaltflanken oder mehr oder weniger großen Kieselsteinen aus. Immer wieder ruft einer von uns: "Merkt Euch diese Stelle, diesen Stein, diesen Huckel!". Wir freuen uns schon auf die Abfahrten ...


Im unteren ersten Viertel eher langgezogen und mit 7-9% im
Schnitt gut zu fahren. Immer wieder zwischendrin: Giftige Rampen mit bis zu 15%.

Die erste Auffahrt auf den Mortirolo beenden wir nach 1:25 Stunde. Wir haben nicht gehetzt, sind aber auch nicht bummelig gefahren. Das geht am Mortirolo allerdings auch gar nicht, denn spätestens bei Kilometer 3 beginnt diese Steigung ihr wahres Gesicht zu zeigen - es wird erstmals schön fies.

Als wir vorsichtig wie auf rohen Eiern heruntergebremst von der ersten Abfahrt wieder im Basecamp sind, machen wir eine kleine Pause. Pinkeln, etwas kleines Essen, die Trinkflasche auffüllen. Ich bitte alle Teilnehmer, auf einem großen Plakat dem Berg und ihrem eigenen "Feeling" Schulnoten zu geben: Patrick und ich fühlen uns 1, Heiko 2 - den Berg empfinden Heiko und ich mit 4 schon anfangs sehr hart, Patrick gibt ihm eine harmlose 2. Er ist halt ´ne harte Sau ...


Es geht steiler: Zweiter Aufstieg zum Mortirolo-Pass.


Ich beende meine Pause schneller als die beiden anderen und gehe allein in die zweite Auffahrt. Als ich ihre Stimmen hinter mir vernehme, lasse ich sie rankommen. Umso besser, machen wir die zweite Auffahrt auch zusammen. Wir "kennen" nun schon nach einer Auffahrt zumindest grob die Abschnitte des Berges, weshalb die ersten zwei, drei Kilometer - obschon merklich härter - ganz gut wegzutreten sind. Ich ertappe mich dabei, dass ich wesentlich mehr trinke. Einteilen! Ich nehme aus Gewichtsgründen nur eine Flasche á 700 ml mit. Ob das bis oben reicht?

Gegen Hälfte des Anstieges: Mehr Steigungsarbeit, sehr unrhythmisch das Ganze.

Ich konzentriere mich auf die Strecke, die gegen Ende der Hälfte des Anstieges ihren Charakter verändert und mit mehr Serpentinen und daher mit viel mehr Rampen aufwartet. Jeweils zwei mal 500 Meter mit 9,7 und 9,8% Steigung im Schnitt und Spitzen bis 15% folgen. Noch sind wir im Wald, schwitzen aber schon gut - wenn das hier heute die vorausgesagten 24 Grad bei Sonnenschein werden, dann Hallelujah!

Immer wieder wechseln sich schöne steile Rampen von wenigen Dutzend bis mehr als 100 Metern Länge mit "seichteren" Stücken ab, die dann mehr und mehr auch die Sicht ins Tal freigeben. Seicht ist in diesem Fall lakonisch, wie oft rufe ich meinen Mitstreitern zu: "Wahnsinn, wie man sich schon über 9% Steigung als Erleichterung freut ..." Heiko, der noch viel weniger als ich trainieren konnte, kündigt schon mal an, ab jetzt "etwas humaner" fahren zu wollen und fällt gerade in den fiesen Stücken immer wieder ab. Ich selbst habe immerhin 6.000 hm in den Beinen, bei 300irgendwas Kilometern - ein Witz! Patrick ist gut trainiert, kurbelt auch, ohne sich was anmerken zu lassen, allerdings muss auch er immer wieder aus dem Sattel gehen, wenn die Prozente steigen. Kein Kinderspaß hier heute.



Die Aussicht tolle genießen wir immer nur kurz: Bei dieser schmalen Straße
muss man sich sehr konzentrieren.

Es wird wärmer, schon haben wir die Jacken offen. Immer steiler wird nun der Abhang neben uns, weshalb die Bäume nun kaum mehr die Sicht verdecken. Wieder so sonderbar entrückt von der Welt da unten fahren wir hier oben in unserer eigenen Welt. Immer wieder muss ich für den Druckausgleich schlucken.

Nach fünf, sechs Kilometern im Anstieg geht der Tanz dann in die nächste Runde: Die Landschaft verändert sich, was man sich gut merken kann, denn wo die Wiesen und Weiden anfangen, wird es ernster. Richtig schön fies zieht es nun auf fast einem ganzen Kilometer an. Da purzeln die Höhenmeter nur so dahin, es knarzen die Tretlager und die Puste brennt. Es ist dieser arhythmische Charakter, der den Mortirolo wohl zusätzlich schwer macht. Die 1.000 Meter-Rampe hat es richtig in sich - Heiko fällt weit hinter uns zurück. Ich schwitze derart, dass ich anhalte und mich aus der Jacke pelle. Vorn kann Patrick Abstand gewinnen, Heiko überholt mich. Wenig später kurbeln wir drei wieder auf gleicher Höhe.

"Boah!", ruft einer der Beiden, als wir bei einem kleinen Kuh-Hof diesen Abschnitt im Sack haben: "Das kam mir beim ersten mal gar nicht so Scheiße vor!" Na, denke ich mir, warte mal auf das nächste mal ...


Das erste richtig lange Hammerstück: 1.000 Meter bei 13 bis 15 Prozent Steigung. Da knarzen Knochen.

Entlang weiter, saftiger, steiler Wiesen können wir nun ein-, zweitausend Meter bei "seichten" 8 bis 10% im Schnitt "ausspannen", können unsere Köpfe wieder etwas drehen und die immer spannendere Aussicht genießen, finden wieder etwas Puste zu dem einen oder anderen Wortwechsel. Und fragen uns doch dumpf im Hinterkopf immer mit: "Wie soll ich hier 7,5 mal hochkommen?!?" 

Überhaupt reden wir nur noch selten miteinander. Denn hinter jeder Serpentine, die traditionell anzieht, vermuten wir nun den Scharfrichter. Wir wissen noch vom ersten Anstieg, dass das weiter oben faustdicke kommt ... nur wo genau? Spätestens nach dem dritten Anstieg kennen wir die Strecke auswendig, ab da werden Worte, Bewegungen, Gesten - kostbare Energie - nur noch selten eingesetzt, für simplen Smalltalk zu wertvoll.


Mit dem Rennrad in der Vertikalen: Zwiegespräch mit dem Berg.


Ich werde den zweiten Aufstieg mit den beiden Jungs in 1:30 Minuten zu Ende fahren - wir brauchen 5 Minuten länger als beim ersten Mal. Spürbar lassen wir also in den 13 Kilometern zum Pass Körner in der Strecke, messbar die Ermüdung schon nach dem ersten Aufstieg.
In der zweiten Abfahrt allerdings lasse ich es diesmal krachen: Noch ist sehr wenig Verkehr unterwegs und ich meine, die Strecke schon gut genug zu kennen. Vielleicht dumm von mir, lasse ich in mancher Situation zu lange rollen, bremse zu spät und schneide zu krass. Unten angekommen Ernüchterung: Brauche ich für die erste Abfahrt - stetig bremsend auf rohen Eiern - 26 Minuten, kann ich bei "all out" und "gib ihm!" am Ende nur mickrige 3 Minuten rausfahren. Der endgültige Beleg, dass maximaler Speed und Risiko in der Abfahrt zeitlich kaum etwas bringt. Bewiesen - in der Abfahrt gewinnst du nichts, kannst aber alles verlieren.

Siebeneinhalb mal Mortirolo für die 8.848 hm - viel Zeit,
diesen Anstieg kennenzulernen.

Ein Grund für uns, in dieser Saison kaum mehr Rennen zu fahren, war auch die Idee, endlich einmal richtig Zeit für einen Berg zu haben. Ich bin so viele "Giganten" gefahren, Izoard, Aubisque, Ventoux, Vars, Tourmalet oder wie sie alle heißen - und doch, schnell rüber, schnell runter - kaum Erinnerungen. Beim Everesten aber, so meine Kalkulation, würde ich richtig viel Zeit haben, mich lange und intensiv mit dem Berg, seinen Abschnitten, seinen Rampen, seinen Eigenheiten und Besonderheiten und damit eben auch mit seinem Charakter beschäftigen können. Würde ihn in und auswendig kennenlernen. Kein Power-Date sondern ein Rantasten, ein Eintauchen.

Meine Rechnung geht auf.

Schon auf der zweiten Runde, mehr aber bei Runde 3 und 4 weiß ich, wo was wann kommt. Weiß, wo neuer Asphalt ist, wo die Huckel kommen oder die drei fiesen Schlaglöcher hintereinadner lauern. Ich weiß, wo der Hund herumläuft (Obacht in der Abfahrt!) und weiß, bei welcher Rampe ich wie hart reingehen muss, wo ich zu investieren habe und wo ich etwas ausspannen kann.

Mortirolo Everesting - wie ein langes, langes Date. Wie Kino-, Theaterbesuch, Essen gehen und Spazieren. Lange Zwiegespräche zwischen Steigung und Steigendem. Am Ende: Die Gewissheit, einen neuen Freund kennengelernt zu haben. Einen Freund mit Ecken und Kanten.


Schon über tausend Meter hoch: Gleich kommt der Mann mit dem Hammer.

Der Berg verändert ab der Hälfte wieder sein Gesicht. Ein Tausendsassa, dieser Mortirolo. In eine Flanke stoßend öffnet sich zwar ein überragender Ausblick, dort unten muss irgendwo sich dann auch schon die Aspahltschlange ab Mazzo unserem Rendezvous-Punkt entgegen schlängeln, aber dafür legen die straßenbauenden Architekten des Schmerzes noch einen oben drauf. 

Die Rampen zwischen den Kehren werden kürzer - und viel, viel giftiger. Immer öfter müssen wir aus dem Sattel gehen, uns zusammenreißen, nicht zu verkrampfen, härter kurbeln und drücken, um die Prozente wegzubügeln, immer weniger Zeit in den "entspannenden" 9%-Stücken, um durchzuatmen und sabbernd, zitternd Wasser aus den Flaschen zu saugen. Wo wir gerade beim ersten Mal hoch noch jede Flanke juchzend mit "jetzt wird´s aber steil!" kommentiert haben, vernehme ich hier und da schon die ersten Flüche.


Langsam brennen Lungen. Und Fußballen. Und Handgelenke.
Und Nacken. Und Schenkel. Ach, Spaß macht es trotzdem.

Patricks Lenden beginnen zu schmerzen.

Heiko macht sich Sorgen um seine Kraftreserven.

Und bei mir meldet sich langsam der Nacken.

War das so clever, sich gleich beim ersten Mal Everesting am Mortirolo zu versuhen? Ach, Papperlapapp, denke ich mir: Ich komme hier eh keine 7 mal hoch heute, an keinem Berg, egal wie steil, würde ich heute 8.000 hm schaffen. Das muss ich auch gar nicht. Klar wären hohe Tausenderwerte toll, aber das ist nur sekundär. "Everesting" nur eine Idee, ein Vehikel. Viel wichtiger ist mir, was ich hier und jetzt gerade mit jeder Umdrehung einsauge: Frische Bergluft, Kräuterduft, gemähte Wiesen, lauer Luftzug. Das Geräusch der Kette über Kurbel und Ritzel, mein schweres Atmen. Atem-beraubende Aus- und Einsichten in eine entrückte Berglandschaft, das alles genießen, aufsaugen, teilen mit Freunden und Gleichgesinnten. Ob da am Ende 2.000 oder 8.000 hm stehen - geschenkt!


Das obere Drittel des Berges wird dann gleich einfach nur noch
steil. Wir freuen uns.

Heiko lässt sich immer öfter abfallen. Der Arme verschaltet sich ein mal sogar, die Kette legt er aus Versehen aufs große Blatt, bleibt natürlich sofort stecken. Auch ich kann immer weniger Fotos machen, da die Steile beide Hände am Lenker verlangt. Und wenn ich abdrücken kann, da, wo es mal weniger steil ist, fange ich Gesichter im Kampf ein, tiefes Atmen, Luft wird hier hektoliterweise eingesogen, Körner und Watt verlassen unsere Muskelfasern wie beim Aderlass. Wir lassen eine Menge Schweiß im Asphalt.

Jeder Meter dieses Berges will hart erarbeitet sein. Der Mortirolo schenkt uns hier heute nichts - das steht nach der zweite Auffahrt fest.


Runde 3: Helm ab zum Gebet - ab der Kirche wird es richtig hart!


Du weißt, dass der Mortirolo dir geich das Genick brechen wirst, wenn du die Kirche siehst! - so oder so ähnlich könnte ein jahrhundertealter Radsportlerspruch, eine Mortirolo-Weisheit lauten, denn das ist das, was wir nach unserem Everesting unisono feststellen: Es ist das obere Drittel des Anstieges, das dem Mythos dieses Berges am meisten gerecht wird. Die knapp 2.000 Meter ab der Kirche. Hölle pur!

Der richtig fiese Abschnitt des Mortirolo beginnt kurz vor der Kirche, etwa zu Beginn des letzten Drittels des Aufstieges.

Schon die 200 Meter Anfahrt zur kleinen Dorfkirche treibt uns das Blut mit Hochdruck durch die Adern - Alter, ist das hier steil! Es ächzt nicht nur der Knöchel, auch die Tretlager werden hier bis an ihre Belastungsgrenze gebracht. Kommen wir hier bei der ersten Auffahrt noch halbwegs locker schnackend hoch, haben wir bei der zweiten schon zu tun, hier im Sitzen und wenigstens halbwegs legér aussehend hochzukurbeln: Ab meiner dritten Auffahrt geht das hier nur noch im Stehen.

Um die Kurve herum ist das Martyrium allerdings noch nicht zu Ende, auch wenn eine Aussicht wie aus dem Bilderbuch immer wieder fasziniert - der Atem stockt hier dann wohl eher, weil gelegentlich steigungsbedingte Herzmuskelaussetzer sich anscheinend auch auf die brennenden Lungen auswirken. Selbst einem Patrick, der ansonsten in Armstrong-typischer Manier nichts von seiner Gefühlswelt durchblicken lässt, entgleiten hier stellenweise die Gesichtszüge, lassen die Schwierigkeiten in der Vertikalen hier erkennen.


Auch Patrick macht mittlerweile dicke Backen.

Mit der schönen Aussicht aber sind wir nur kurz abgelenkt, denn kurz hinter der Kirche - leichte Linkskurve und deshalb Gottseidank verdeckt, geht es im mittleren Prozentbereich munter weiter. Fast senkrecht türmt sich vor uns eine zweihundert, dreihundert Meter lange, weit gezogene Rechtskurve auf, die an ihrem Scheitelpunkt in Bäumen verschwindet: Da ich mich hier nun das dritte Mal lang quäle weiß ich, dass genau da in diesen Bäumen der ganze Spaß noch einmal eine Nummer fieser wird. 


Quälerei bis zur Kotzgrenze: Lungenbluten am Mortirolo. 


Dann erklimmen wir - uns zwingend sitzen zu leiben - die lange Rechtskurve und müssen nun ein kurzes "S" hinauf. Nur 40, 50, vielleicht maximal 80 Meter lang, aber so unglaublich steil, dass man hier nicht mehr anfahren könnte, würde man ausklinken. Wir reißen an unseren Lenkern, treten in die Pedale und werfen uns mit all unserem Gewicht in den Wiegetritt. Rund kann man den hier nicht mehr nennen - eher hat das was von Trial-Sport. Langsam, quälend langsam geht das voran. 3, 4 km/h, schneller können wir das hier nicht meistern.

Das kleine "S" im Wald: Hammersteil!

So "sprinte" ich etwas vor und klicke aus (irgendwie kurz hinabrollen, einklicken und wieder anfahren, denke ich mir), um diese Momente einzufangen. Knarzend kämpft sich Patrick an mir vorbei, der nun völlig die Contenence verloren hat und seine Gesichts-Charade aufgibt: Er prustet und stöhnt, pullt und reißt am Lenker. Wahnsinn, was Carbon so ab kann, denke ich mir ...

Dann Heiko, der sich langsam an mir vorbei wuchtet, die Kette zum Bersten gespannt. Er schnauft, dicke Backen auch bei ihm. Das Cervélo hatte er erst vor wenigen Tagen beim Mechaniker - Tretlagerknarzen. Noch heute morgen surrt es geräuschlos. Jetzt hier schreit das Carbon wieder um Hilfe. Wahnsinn, wie steil das hier ist!


Hier hilft nur rohe Kraft, Zähne zusammenbeißen & durch!

Als beide an mir vorbei sind, das "S" überlebt haben, bleibt keine Zeit zum verschnaufen. Die Waden brennen, die Lunge blutet - und doch, wer jetzt aufhört zu treten, der wird hier verloren gehen. Denn wenn das "S" schon heftig war, steht nun vor uns nicht mehr und nicht weniger als Asphalt-gewordene Welle aus "The perfect Storm": Fast senkrecht steht da eine Wand aus grauem Stein, unverrückbar, fast unbezwingbar. Keine 20 Meter lang und doch so unverschämt steil, dass nur pure Willenskraft und rohe Gewalt es vermögen, unser Lebendgewicht dort halbwegs hoch zu wuchten.


Als die Beiden fluchend in der Rechtskurve zur nächsten Rampe verschwinden, klicke auch ich mich wieder ein und stelle mich der Vertikalen. Ich muss wirr grinsen, immer wieder meinen Kopf schütteln, Spuckefäden absondernd - wie viel perverser kann das hier eigentlich noch werden?!


Die Mauer nach dem "S" - sag mal, gehts noch?

Die Qualen sind fast vergessen, als ich nach 1:36 Stunde endlich meine dritte Auffahrt beende und oben auf dem Pass stehe. Mich wundere, ist dieser dritte Trip, der mich gefühlt komplett zerstört hat, doch irgendwie nur eine Minute langsamer ist, als der vorherige? Ich treffe zwei Deutsche, die sich freuen: "Von Euch Verrückten haben wir gelesen!" Sie versprechen uns im Scherz, bei unserer siebten Auffahrt wieder hier oben herkommen zu wollen. Wir alle wissen, dass sie das nicht brauchen - um ehrlich zu sein bin ich mir nicht einmal sicher, ob sich eine vierte Auffahrt machen ließe. Wirklich, kein Scherz: Nicht umsonst steckt der "Mord" in "Mortirolo".

Da ich sofort in die Abfahrt gehe und sich Patrick und Heiko eher Zeit lassen, genieße ich eine Art Vorsprung, 20 Minute verbringe ich allein im Basecamp, futtere mich voll, verspeise fast eine Packung Chips (Salz her!) und trinke einen Liter Wasser. Liege im Bus der Länge nach in der Sonne, atme schwer. Boah, ist das Ding krass ... doch dann. Plötzlich. Springe ich auf.


Vierter Aufstieg: Es wird leichter?!


Wenige Minuten nachdem Heiko und Patrick unten ankommen, gehe ich allein in meine vierte Auffahrt. Irgendwie befreit. Irgendwie leicht. Tänzelnd. Was ist denn hier los, denke ich mir, als ich scheinbar mühelos die erste Hälfte abgespult habe und mich entlang der Wiesen hangele. Es geht ohne Schmerz. Ohne Druck. Leichtfüßig fast - zwar immer noch leidend und ächzend - aber ohne Probleme absolviere ich das Kirchenstück. Hallo? Hier hatte ich doch vorhin noch den Nahtod?!

Der Mazzo-Part im Endanstieg: Nicht leichter. Eher schwerer.

Denn nach dem "S", das - unter uns - sich drei mal (!) wiederholt, ehe man zur Kreuzung kommt, wo sich der Grosio-Anstieg mit dem Mazzo-Anstieg vereint, beginnt das letzte und spannendste Stück des Mortirolo. Es hält noch zwei fiese Steilrampen und zum Schluss das Finale mit einer wunderbaren Belohnung dabei. 

Zunächst zieht, nachdem man an der Mazzo-Einmündung vorbei ist, man in einen seichten Nadelwald ein. Noch moderat steigt die Straße bei 9 bis 11 Prozent an, beschreibt in einer engen Haarnadelkurve einen Rechtschwenk und geht dann ein-, zweihundert Meter richtig straff nach oben. Noch drei Kilometer to go, denkt man sich hier und ist beruhigt, doch dann zwingt eine erneute Serpentine wieder auf Gegenkurs und mündet in einer erneuten Rampe, die es diesmal locker auf 15% bringt. Schweiß und Atemlosigkeit sind nun vorherrschende Symptome der gequälten Zweiradfreaks.


Märchenwald mit Quäldich-Faktor. 3 Kilometer bis zum Pass.
Sausteil. Mal wieder.

Der Rest wird schnell erzählt sein, denn es wird nun derart steil, dass ich an Fotos nicht mehr denken kann. Zunächst eine flache Kurve, dann ein paar Dutzend Meter wieder eine Hammersteile. Dann "Tornante 7" (ab Mazzo sind die Kurven bis zum Pass nummeriert). Hier freuen sich Heiko und Patrick nach eigenen Angaben, "da ja jetzt fast alles geschafft ist", ich muss sagen, bei mir löst das alles eher Zittern aus. Die Abschnitte zwischen Tornante 7, 6 und 5 sind mit die steilsten Stücke des ganzen Anstieges. Ähnlich der "S"-Schlängel und der Wand nach der Kirche, wird es hier nie flacher als 15, 16, vielleicht mehr Prozent, an ausruhen, im Sitzen fahren oder Kraft sprachen ist hier nicht zu denken. Hier musst Du durch! Tornante 6 schluchzt langsam vorbei, viel zu langsam, dann, Gegenrampe, Tornante 5, das Ziel. Erst, als ich bei diesem Schild vorbeikomme, kann ich mich endlich auf den Sattel fallen lassen. Und ja. Endlich. Geschafft! Der Pass ist besiegt. Zwar sind das nun noch eintausend Meter, aber die treten sich weg. 

Hinter Tornante 4 öffnet sich ein weiter, fast unbewaldeter Hang, in dem sie die 4 letzten Kurven bei moderaten Gradienten mit nicht mehr als 8 % platziert haben. Ein Brunnen liefert den Leergetrunkenen frisches Quellwasser, Familien grillen hier oben und genießen die Sommerfrische.


Nur noch 500 Meter - und weniger als 9% Steigung. Der
Mortirolo wird kurz vor dem Pass zum Schmusekätzchen.

Noch heute morgen beim ersten Mal Mortirolo fliegen wir hier fast hoch. Auch beim zweiten Anstieg löst sich Patrick auf den letzten 2 Kurven und sprintet fast bis zum Ziel. Als ich hier bei Anstieg 3 und 4 alleine lang komme, genieße ich einfach nur die Ruhe und die letzten Meter in der Sonne. Locker kurbeln, tief atmen. Du hast es geschafft!

Ich schaue auf mein Garmin. Nach 4 Auffahrten stehen jetzt 4.400 Höhenmeter auf meinem Konto. Ich muss grinsen, so sehr freue ich mich: Gerade einmal 600 Kilometer mit 6.500 hm habe ich trainieren können in 2015. Und dann, so völlig aus der Kalten, einfach mal so 4.000 hm an diesem Kackberg. Ich bin zufrieden. Mehr als das - ich bin glücklich!


Die letzte Kurvenkombi. Dann bin ich oben. Endlich!

Ich blicke kurz zurück auf die letzte Kurvenkombination, dann richte ich meine Augen nach vorn, nach oben und blinzle in die Sonne. Da. Da vorn. Da ist es. Das Ziel. Unser aller Ziel. Das unscheinbare Schild. "Mortirolo 1.852 m" steht da. Gleich schlage ich dort an. Vierter Aufstieg hintereinander. Wahnsinn!


Finish. Glückseligkeit. Aus und Ende. Fünfter Aufstieg zum Pass.


Jeder von uns erlebt den Mortirolo anders. Für Heiko ist dieser Berg von Anfang an ein fieses Monster. Kein Wunder - hat Heiko doch fast keinerlei Training hinter sich. Patrick, der eher wortkarge Understater, kann dieser Steigung viele schöne Seiten abgewinnen und - zumindest bis zu seiner letzten Runde - findet diesen Berg "ganz interessant". 

Letzte Rampe für Patrick. Noch mal ziehen, dann war es das!

Ich selbst muss sagen, dass mir der Mortirolo bei jeder Auffahrt anders vorkommt. Fliegen wir ihn bei unserem ersten Mal nur so hinauf, stehen unter Strom und rutschen fast auf unseren Litern Machismo und Adrenalin aus, merken wir erst bei der zweiten Tour, was der Mortirolo wirklich ist: Hammer steil. Dass der Berg auch richtig weh tut und auf jedem verdammten Meter kiloweise die Körner zieht, das brennt sich uns schmerzhaft bei der dritten Auffahrt ein.

Es ist bei mir dann aber diese vierte Auffahrt, erst die vierte, bei der ich endlich wirklich Erfolg verspüre. Weil ich mein persönliches Ziel bei diesem Everesting erreiche. Nein, nicht 8.848 Höhenmeter (absolut unmöglich hier für uns heute!), sondern weil ich mir mit über 4.000 hm einen Wunsch erfülle.


Noch einhundert Meter - vor Stolz platzen wollen!

Das letzte Stück hinauf zum Passschild ist eine fast gerade, leichte Rechtskurve. Ab 300 Meter sind alle 100 Meter auf den Asphalt aufgesprüht, man kann die Umdrehungen der Kurbel zählen, bis man am ersehnten Zielstrich ankommt, endlich ausklicken und durchatmen kann: Geschafft!

Es ist strahlender Sonnenschein, der uns heute morgen, als wir hier gemeinsam unser erstes Passfoto schießen, auf die schweißnassen Rücken scheint. Und es ist auch Sonne, die mich mit willkommener Wärme schmeichelt, als ich nach dem vierten Mal hier oben alleine ankomme. 


Unser Passfoto nach der ersten Auffahrt. Nach unserer Vierten
sahen wir ... schlimmer aus.

Was kann man mehr erwarten? Wir sind hier angetreten, nicht um Rekorde zu brechen, in die Annalen des Radsports einzugehen (das sollten wir alle schon längst gecheckt haben), sondern um Spaß zu haben - Spaß mit uns, Spaß mit unserem Rennrad und auch Spaß mit diesem Berg.

Nun ja, Spaß ist relativ und so ist letzteres sicher eine für Außenseiter eher schwer verständliche Mischung aus Hass, Leid, Fluchen, Faszination, Angst, Verzweiflung, Sieg und Triumph. Und letztlich: Ein großartiger Tag mit netten Menschen an diesem großartigen Berg.


Runterkommen: Die Abfahrten vom Mortirolo.


Das Runterkommen. Für manche der eigentliche Höhepunkt des Pässefahrens mit dem Rennrad, für andere eher notwendiges Übel. Am Mortirolo für mich persönlich eher letzteres, denn ich muss sagen, ich finde die Abfahrt nicht nur sehr anstrengend sondern auch höchst gefährlich. Doch bevor wir uns in die steilen Gefälle begeben, drücken wir uns alle oben ein Power-Gel rein - das sollte nach 25 Minuten in der Abfahrt soweit vom Körper absorbiert sein, dass wir pünktlich zum nächsten Anstieg wieder die begehrte Extrapower in den Beinen haben. Und dann die Abfahrt ... 

Gel rein, Jacke zu, Handschuhe an - die Abfahrt ruft!

Man kann am Mortirolo nicht rollen lassen. Dazu sind die Rampen zu steil - kaum lässt man die Bremse auf, erreicht man 50, 60 km/h. Viel zu kurz die Rampen bis zur nächsten Kurve, viel zu heftig die Gefälle. Hart bremsen, sehr hart! Schon nach der ersten Abfahrt am Morgen schmerzen uns die Hände und Handgelenke von den irrend Bremskräften, die wir fast stetig aufbringen müssen.

Morgens umso mehr, denn die Straße ist noch nass, mehrmals bricht allein mir insgesamt mal das Vorder, mal das Hinterrad aus - Fehler, die man sich nie leisten sollte. Am Mortirolo schon gar nicht. 


Es gibt sicher Abfahrten, die traumhafter sind, als diese. 
Der Mortirolo tut auch runter weh.

Die Straßen sind sehr eng. Spielraum zum Manövrieren bleibt kaum. Vor allem ab Mittags, wenn die Bauern mit ihren Bergtraktoren und später die Motorradfahrer und Schweizer Ferrariclubs den Mortirolo befahren, ist absolute Vorsicht geboten - Kurvenschneiden verbietet sich sowieso!

Dazu eine Asphaltqualität, die man als prekär bezeichnen müsste: Schlaglöcher, lange fußbreite Rillen und Abrisskanten, dann frische Stellen mit perfektem Asphalt - glatt wie Schmierseife - gepaart mit welligen und huckeligen Abschnitten, dazu Schotter und Kiesel ... die Mortirolo-Abfahrt macht wahrlich wenig Spaß. Einen gewissen Charme besitzt sie schon und ich gebe zu, dass ich nach der zweiten Abfahrt schon mehr rollen lasse - dennoch, wer hier abfährt sollte das eher wie auf rohen Eiern tun. 


Patrick bei der vierten Abfahrt. Wollen wir noch ein mal hoch wagen?

Jeder von uns Dreien erlebt hier in den Abfahrten mehr oder weniger haarsträubende Situationen, die glücklicherweise alle ohne ernste Folgen ausgehen. Dennoch: Vorsicht ist für den, der vom Berg runter will, allemal geboten - auch wenn kurzzeitig Speedrausch aufkommt, dem kann man sich an anderen Pässen viel besser hingeben, als hier.



Everesting und Verpflegung: 9 Stunden Energie nachfüllen.


Wir verweilen achteinhalb Stunden am Mortirolo - tretend. Insgesamt werden wir 12 Stunden am Berg verbringen. In dieser Zeit müssen wir Unmengen an Kalorien unserem Körper zuführen, Energie, die wir dringend brauchen, aber auch Spurenelemente, Elektrolyte und wichtige Mineralien.

Ich begehe jede Auffahrt mit einer Flasche, die ich mit 700 ml Iso-Drink fülle. Trinke ich in der kalten Frühe die Flasche nicht einmal halb leer, reichen die wiederum in der Hitze des Tages auf den Tropfen genau bis zum Pass. Heiko wiederum benötigt füllt seine Flaschendurchweg mit klarem Wasser, während ich nach dem Horror-Aufstieg 3 meine Mite Red Bull-Wasser fülle. Jeder so, wie er am besten kann ...

Viel trinken! Eine Flasche pro Auffahrt mindestens.

Wir erhalten die Möglichkeit, die gerade erst vor 2, 3 Wochen auf dem Markt eingeführten Produkte von taxofit Sport hier geht es zur Website zu testen und werden komplett mit Iso-Drink, Power-Gel (lecker Apfel, nicht zu süß, sher gut verträglich), Power-Riegel (Müsli mit Erdbeerstücken, sehr geil) und Protein-Riegeln zur Regeneration (nicht so mein Fall, Patrick isst dafür einige der Vanille-Teile) ausgerüstet.

Am Ende werden wir 24 Gels, 10 Packungen Iso-Drink, einige Müsliriegel und Patrick besagte Protein-Bars verspeist haben. Übrigens: Teilnehmer unserer folgenden Everesting können die taxofit Sport-Produkte ebenfalls testen.

Hinzu kommt unser Büffet, das wir relativ gut voraus geplant haben: Nicht nur, dass wir fast das gesamte Brot, die Wurst und den Schinken verspeisen, auch das Käse-Angebot wird fast komplett verspeist. Hunger auf Gurke und vor allem Bananen hingegen verspüren wir kaum, die müssen wir fast komplett wieder mit heim nehmen.


Nachdenken. Lachen. Schnacken. Und viel Essen.
Unser Büffet war lecker und ausreichend.

Abgesehen davon entpuppt sich unser Kofferraum-Büffet als idealer Treffpunkt um zu resümieren und zu planen. So sitzen wir da, schießen uns mit Cola wieder kurzzeitig fit (3 Mann trinken 3 Liter auf den Tag verteilt!) und ich labe mich an den leckeren Salt-Chips (eine Tüte während des Tages), während Heiko und Patrick eher das Studentenfutter und die Gummitiere vorziehen. Was keiner brauchte, war Apfel- und O-Saft.

Wieder was gelernt für die kommenden Everestings-Events


Im Laufe des Tages zog natürlich etwas Unordnung ein.
Aber das sieht beim Gran Fondo auch nicht anders aus ...

Es ist dann auch eine Gesprächsrunde in eben jenem Kofferraum, der mich dazu bringt, noch eine fünfte Auffahrt zu starten. "Ich will die 5.000 Höhenmeter voll machen!", sage ich zu Heiko, der hochzufrieden aber komplett fertig nach der vierten aussteigt. Patrick lässt sich da nicht lange lumpen - wir satteln noch einmal unsere Pferde.



Faszination in der Leere: Fazit unseres ersten Everesting-Events.


Ich trete die Steigungen hoch und stehe knapp unter dem ersten krassen Stück, als das Garmin endlich 5.001 Höhenmeter zählt. Noch überlege ich kurz: Weiterfahren? Das Ding zu Ende bringen? 5 Auffahrten, das sind knapp 6.000 hm. Das wäre der Hammer. Ich entscheide mich dagegen: Es ist 18.30 Uhr, bald wird es dämmern, hier wird es sehr schnell dunkel. Und diese Abfahrt im Dunkeln? Ausrede! - pocht es schon in meinem Kopf, doch ich entscheide mich auf safe zu gehen.

Alter, denke ich mir, 5.000 Höhenmeter am Mortirolo, was willst Du eigentlich?!

Schluss. Aus. Schade! Hätte ich noch? Hätte ich mal?
Egal. 5.000 Höhenmeter. Wahnsinn.

Ich bin vor Patrick wieder unten, schon bedauere ich meine Entscheidung. Das hätte ich hier bestimmt noch geschafft! Na klar. Sicher. Sicher? Sicher! Aber das interessiert mich eigentlich nicht. Ich hatte noch auf der Hinfahrt sinniert, dass 3 Mal doch an sich Pflicht sein müssten, 4 mal das Ziel. Alles darüber hinaus wäre Bonus, wäre genial. Und nun? Heiko erfüllt das Ziel, Patrick und ich mit 4 kompletten und einer fast halben Auffahrt mit 5.000 hm mehr als wir dachten.

"Scheiß auf die Zahlen", meine ich: "Spaß. Was hatten wir Spaß? Dieses Wetter, diese Natur ...?" Richtig, ruft mir Patrick atemlos entgegen, als auch er endlich gegen 19 Uhr von seiner letzten, 4 1/2 Auffahrt zurück kehrt.


Auch für Patrick: Schluss nach 5.000 hm. 
Herzlichen Glückwunsch!

Und dann kommt ein Satz, den ich toll finde, denn Patrick ist auch in 2 Wochen bei unserem nächsten Event mit am Start. Es geht auf den legendären Mont Ventoux: "Da haben wir in 2 Wochen doch wenigstens noch Potenzial!" Recht hat er, und wie! Wie unspannend wäre es, da hin zu gurken und zu wissen, dass man das Ding doch eh schon im Sack hat? "Eben!", meine ich "dann machen wir die 6.000 hm am Ventoux. Auch geil." 

Und insgeheim hoffend - vielleicht ja 7.000 hm?

Wir packen unsere Sachen zusammen, räumen unser Basecamp auf und machen uns auf ins Hotel. Nicht, ohne einen letzten Blick auf diesen harten, mystischen Berg zu werfen, diesen kleinen, so unscheinbaren Waldhügel, diese heftige, scheiß-steile Wand aus schlechtem Asphalt. Wir haben Dich heute richtig kennen gelernt, wir haben Dich heute bezwungen. Oder Du uns?


Geschafft! Endlich! Jetzt bitte: Duschen, Essen & Schlafen.

Im Hotel-Restaurant umstellt gefühlt das gesamte Küchenpersonal unseren Tisch. Ungläubig, ob wir wirklich 4 mal hintereinander den Mortirolo geschafft haben. Der Koch haut mir auf die Schulter: "Molto grande porzione!", kündigt er einen Pastaberg an, den man hier nur als Rennrad-Fahrer bekommt und dessen tomatensaucige steile Flanken seinem großen Bruder nicht weit vom Hotel alle Ehre machen würden. 


Wenig später schlafen wir fest und zufrieden.

Manchmal zuckt noch ein Bein: Dann träume ich wohl vom "S".


Lust auf ein Everesting? Begleite uns zum Mont Ventoux.


Wenn Dich unser Bericht vom ersten Everesting am Mortirolo begeistert hat und Du Lust, Zeit und 300 € übrig hast - warum nicht? Begleite uns und 7 andere Rennrad-Verrückte zum mythischen Berg der Franzosen, den legendären Mont Ventoux und versuche Dich selbst im Everesting. Der Spaß zählt, egal, ob Du den Riesen der Provence 3 mal, 4 mal oder 8 mal schaffst. Erlebe ein Wochenende mit Gleichgesinnten und probiere Dich im Zweikampf Mann gegen Berg. Hier sind alle Termine:





MORTIROLO 15.-17. Mai
MONT VENTOUX 29.-31. Mai - NOCH 2 FREIE PLÄTZE!
Neuer Berg! Voting demnächst Termin Ende Juni/Anfang Juli
COL DU GALIBIER 7.-9. August
COL DE LA BONETTE 28.-30. August

Bei Fragen, zur Anmeldung oder unverbindlichen Reservierung eines Startplatzes nutze bitte das Kontaktformular hier im Blog.