29. Juli 2014

Rennbericht Tour du Mont Blanc: DNF, the only Option.


Es ist das erste Rennen dieses Jahres. 2014, das steht nicht erst seit Mitte des Jahres fest, wird meine schlechteste Rennrad-Saison. Nicht nur wegen des Trubels um den Wegfall unseres langjährigen Team-Sponsors, sondern auch - ein freudiges Ereignis! - die Geburt meines Sohnes hat mich Prioritäten anders setzen lassen. Setzen lassen wollen: Keine Sekunde mit meinem kleinen Racker will ich missen! Der Preis dafür ist klar - wenige Trainingstage, noch weniger Trainingskilometer und ein am Ende dann doch noch sehr attraktiver, allerdings mehr als überstürzt zusammengezimmerter Rennkalender. Auch Dank unseres neuen Sponsors: DuraCase. Nicht weniger als 4 Radmarathons stehen auf dem Plan. Und das sind nichts anderes als 4 der Härtesten, die man fahren kann: Alpen-Traum. Ötztaler. Alpenbrevet. Und eben jene Tour du Mont Blanc. Kennt Ihr nicht? Nie was von gehört? Ging mir anfangs genauso.

Große Erwartungen: Kann ich diesen Mega-Alpen-Radmarathon schaffen?


Die Tour du Mont Blanc ist einer der längsten Rad-Marathons, die man in den Gebirgen Europas fahren kann. Mit seinen 330 Kilometern Länge sprengt er jeden Rahmen bekannter und fester Größen im Rennkalender: 258 km für den Ötztaler Radmarathon, 276 km für die Platinrunde des Alpenbrevet. Dazu 8.000 Höhenmeter. Ein Superlativ. Sicher, das Race Across the Alps, der Glocknerman - da gibt es noch einige Veranstaltungen, die "mehr" zu bieten haben. Aber das sind - und das weiß ich aus eigener Erfahrung - Ultrasport-Ereignisse. Nichts für Hobbysportler. Wie mich.

Starker Wille. Gut trainiert. Ziel im Blick. So stelle ich mir
einen Finisher bei der TdMB am Start vor. Und so sah ich aus ...

Es ist 4:50 Uhr am Morgen, als ich die 13 Kilometer von meinem Hotel am Fuße des Col des Saisies hinauf zum gleichnamigen Startort des Rennens gefahren komme. An Schlaf war nicht zu denken: Das äußerst schmackhafte Abendessen meines Hotels hat mir bis etwa 1:30 Uhr "Verdauungsspaß" gebracht, zudem scheint dieses Mal (Verflixt! Gerade heute!) mein Red Beet Vinitrox, ein Rote Bete-Konzentrat aus dem Hause Sponser, eine durchschlagende Wirkung zu haben, und das meine ich eher negativ: Bis kurz vor drei Uhr sitze ich mit Durchfall auf dem Klo. 

Um 4 Uhr klingelt dann der Wecker. Ich bin wie gerädert.

Im Hotel haben sie mir ganz liebevoll ein Lunchpaket geschnürt, aber nachdem sich die ganze Nacht Magen und Därme aufs Übelste verschlungen hatten, möchte (kann?) ich ihnen heute morgen nicht noch mehr zumuten. Außerdem verspüre ich keinerlei Hunger. Ich bilde mir ein, das fette Steak von gestern Abend und die brutzelnden Pommes Frites wirken noch nach.

Und so ist es nur eine Banane, die ich mir auf der serpentinenreichen Fahrt im Leihwagen hinauf zum Startort reindrücke. Allein komme ich mir vor auf dieser dunklen, engen Straße: Dieses Mal kann leider kein Teamkollege mit am Start sein.


Dieses Mal mit so wenig Zähnen wie möglich unterwegs: Kompakte 34/28 am Cervélo R3.

Gestern baue ich noch mein Rennrad auf. Ich bin, anders als sonst üblich, nicht mit dem S5 angereist. Die 8.000 Höhenmeter und der neu in die Strecke aufgenommene Colle San Carlo flößen mir gehörig Respekt ein. Ich möchte vorn an der Kurbel so wenig Zähne wie möglich haben. Hier am R3 dreht sich ein 34er-Blatt, immerhin 2 Zähne weniger am S5. Ob das was bringt? Psychisch sicher.

Mein bewährtes Kletter-Rad, konsequent auf Bergtauglichkeit getrimmt, statte ich zudem speziell für die Anforderungen der 330 Kilometer langen Strecke aus: Mein Garmin Edge 800 ist an den Power-Monkey Zusatzakku angeschlossen, alle Steckverbindungen (es ist Regen angesagt) sind mit Klebeband "abgedichtet". Auf das Oberrohr klebe ich mir - Triathlon-like - 3 Sponser-Gels, in der Satteltasche befinden sich 2 weitere, in meiner Trikot-Tasche 3 weitere Gels. Zwei 0,75 l-Bidons müssen sein. Ersatzsschlauch und Pumpe am Sitzrohr, klaro. Beleuchtung - vorn und hinten - ist bei der Tour du Mont Blanc Pflicht. Start im Dunkeln. Ankunft (höchstwahrscheinlich auch) im Dunkeln. Keine Frage, da müssen wir leuchten.

Während ich zum Start hochfahre, erinnere ich das Briefing am Vorabend in der Stadthalle.


Ein Tag in der Nässe ist vorhergesagt. Kalt noch dazu. Ab 17, 18 Uhr Gewitter. Der Wetterbericht gibt mir stark zu denken.

Die Wettervorhersage besteht aus Warnungen vor dem Regen. "Nehmen Sie wasserdichte und warme Kleidung mit.", raten sie uns. Als einigermaßen erfahrener Radsportler weiß ich, dass es keine wasserdichte Kleidung gibt. Jedenfalls keine, die mich bei 10 Stunden Regen trocken hält. Und warm? Bei durchnässten Klamotten versagt jeder noch so geile High-Tech-Stoff. "Stellen Sie sich auf Zittern ein.", hätte es da ehrlicherweise lieber heißen sollen.

Regen also. Unangenehm. Aber machbar. Das einzige, was mir da Sorgen macht, ist der Umstand, dass ich bei regennassen Fahrbahnen in den Abfahrten massiv Zeit verlieren werde - und das geht auf den Schnitt. Die DNF-Grenze der TdMB liegt bei 18,1 km/h. Wenn man sich dann die Abfahrten mit 30 km/h herunterbremsen muss, bergauf schaffste eh nur 6-15 km/h, dann wird das sehr schnell sehr eng.

So richtig ins Grübeln komme ich allerdings bei der Aussicht auf einen "severe thunderstorm in the afternoon-hours with strong winds and possible local hailstorms." Sterben wollte ich hier am Mont Blanc eher nicht.

Tja. Kann ich diese 330 Kilometer, diese 8.000 Höhenmeter also schaffen? Vor allem, bei diesen Aussichten? Als ich im Auto sitze, mich anziehe, sage ich mir so: "Klar. Das schaffste!". Ich mache die Autotür auf. Kalter Wind pfeift sofort durch die noch offenen Reißverschlüsse. Bald fröstelt es mir. "Phuuh.", mache ich. Denke nicht weiter nach und schiebe in die Dunkelheit. Dorthin, wo gedämpfte Stimmen herüberwehen. Zum Start.


Am Start in Les Saisies: Erinnerungen ans RATA.


Es sind laut Starterliste 300 Rennrad-Enthusiasten zu diesem Rennen gemeldet. Das wird ein überschaubares Feld, denke ich mir. Als ich ankomme - noch ist es trocken - dämmert es bereits zögernd einen blassen Morgen hinter den Spitzen des Berges hervor, der in rund 14 Stunden - wie ich es mir ausrechne - meinen letzten Anstieg hinauf nach Les Saisies markieren wird.

Sie haben nicht wie üblich treibende Beats in den Boxen. Auch peitscht kein ambitionierter Moderator die Massen an. Mir scheint, es ist allen noch zu früh.


5:10 Uhr am Start: Langsam treffen die Radsportler ein. Ruhige, fast geheime Stimmung bei
der Tour du Mont Blanc.

Irgendwie fühle ich mich an das Race Across the Alps erinnert. Die Starter sind auch hier anders, als bei den normalen, den großen Hobbysport-Veranstaltungen. Viele kennen sich - eine kleine Szene. Die übliche Poser-Fraktion fehlt hier sympathischerweise ebenso, wie die Kuchenbauch-Daddies, die es nur ein mal im Jahr in einen Startblock schaffen. Angenehm leise unterhalten sich alle. Keine Schreihälse oder "Schaut-mich-an"-Idioten. Das passt, denke ich mir, sehr gut zum bisherigen Gesamteindruck dieser Veranstaltung: Professionell, aber familiär. Freundlich sind sie hier alle, jeder nimmt sich sofort ein Ohr, wenn ein anderer eine Frage hat.

An einem Büffett gibt es Kaffee (ah, endlich!), Süßes und Stullen für die Starter. Und deren Begleiter. Wieder sympathisch.

Ein Mädel geht von Rennrad zu Rennrad, prüft die Funktion der Leuchtmittel und den Sitz von Startnummern und Transponder. Gegen 5:30 Uhr dann schaltet doch einer das Mikrofon an. "Wir starten in 5 Minuten - und vergesst nicht, bis Megéve geht es im geschlossenen Verband. Fahrt vorsichtig!".

Ohne viel Tamtam. Ohne Countdown. Ohne Trompeten oder Pauken setzen wir uns wenig später in Bewegung. Unprätentiös. 

Endlich wieder Rennrad. Endlich wieder Fahrtwind im Gesicht. Langsam, fast behäbig geht es los. Es lässt sich gemütlich an. Doch das ändert sich. Gleich.


Die ersten 20 Kilometer im "geschlossenen Feld". Ich würde eher sagen, im 
"losen" Verband. Bis Megéve ist die TdMB eher gemütlich.

Da es noch sehr dunkel ist, die Abfahrt vom Col des Saisies bis Megéve an einigen Stellen sehr steil ist, es zudem zwei sehr enge, fast 180 Grad umfassende Kurven gibt und in einigen Falten des Berges dichte Nebelbänke hängen - abgesehen davon, dass die Strecke natürlich nicht für den normalen Verkehr gesperrt ist - soll bis Megéve im geschlossenen Verband gefahren werden. 

Den Col des Saisies, genau die Abfahrt, die ich gerade abreite, kenne ich noch von der zweiten Etappe der Haute Route, die ich im letzten Jahr gefahren bin. "Komisch, an wie viele Details ich mich noch erinnere ...", schießt es mir durch den Kopf.

Im "geschlossenen" Verband freilich fahren wir nicht. Eher in losen Gruppen von 15 bis 20 Mann. Weit vorn mögen sie schon 1-2 Kilometer Vorsprung haben, ich selbst befinde mich im Mittelfeld, ganz hinten, na klar, will ich aber auch nicht sein.

Am Fuße des Col des Saisies treffen wir auf eine Hauptverkehrsstraße. An deren miserablen Asphalt bis Megéve kann ich mich auch noch erinnern.


Das Feld rückt wieder etwas dichter zusammen. Mir ist brüllend heiß!

Die Abfahrt macht mir einen Heidenspaß. Eigentlich bin ich auf Ultravorsicht gepolt: Kalte Muskeln, Adrenalin in 300 Radsport-Boliden, fast 15 Kilometer permanent bergab und noch dunkel dazu. Perfekte Bedingungen für Unfälle. Weil unser Feld aber so langgezogen ist und - wie ich meine - nur aus Vollprofis besteht, kann ich mich voll und ganz der Vertikalen hingeben.

Frisch knallt mir die Bergluft ins Gesicht, ich kurbele, was das Zeug hält. Einerseits um warm zu werden, andererseits weil ich merke, dass meine Mitstreiter scheinbar von den ersten Metern an auch - und gerade - in der Abfahrt nicht gedenken, auch nur eine Sekunde dieses Rennens verstreichen zu lassen, ohne das Mögliche an Speed rauszuholen.

Klar, dann und wann schaue ich auch mal abseits der Strecke - das kann ich aber nur bei den beiden Stücken der Abfahrt, die es leicht bergauf geht. Ansonsten heißt es - Reingetreten!


Nicht zu lange an den Aussichten laben, auch wenn ich das als
Flachland-Hamburger umso beeindruckender finde. Die TdMB ist nicht nur lang, sondern auch ein schnelles Rennen.

Bis Megéve, so hatte ich das im Briefing jedenfalls verstanden, sollte es im Feld neutralisiert gehen. Dann, so stellte ich es mir jedenfalls vor, würden wir uns irgendwo sammeln, es würde den offiziellen Start geben und wir würden alle noch einmal über eine Matte zur Zeitnahme fahren. Tatsächlich passiert, als wir bei Kilometer 23 der Tour du Mont Blanc Megéve erreichen, aber gar nichts: Wir brausen durch den Ort, ich erkenne noch mein Hotel, das ich mit Heiko nach der ersten Etappe der Haute Route bewohnt hatte, muss kurz grinsen (es war das "Sauna-Zimmer", von oben bis unten komplett in ungehobeltem Saunaholz verkleidet) und erschrecke fast, als ich merke, dass ich ganz schön arbeiten muss, um nicht den Anschluss zu verlieren.


Beeindruckende Gletscher-Aussichten auf den Mont Blanc im Flachstück durch Chamonix.


Schnell haben wir unser Tempo gefunden, doch auf einmal sind irgendwie alle Teilnehmer um mich herum - bis auf zwei andere - verschwunden. Hallo?

Ehe ich halbwegs analysieren kann, warum dies und wo vor allem dies geschehen sein kann, werde ich vom Panorama eingeholt: Als ich durch Chamonix komme, bekomme ich wunderbare Ausblicke auf beeindruckend riesige Gletscher.



Sogar die Sonne spielt (kurz) mit. Wunderbare Natur hier! 

Wir nehmen alle ein bisschen das Gas raus. Ergötzen uns an diesem Anblick, welchen die Mont Blanc-Flanke hier bietet und ich schieße ein paar Fotos. Da ich - endlich! - von meinem alten Sony Ericsson-Handy auf ein Galaxy umgestiegen bin, mache ich diese nun nicht mehr mit der, zugegeben superpraktischen, Kamera im Satio, sondern habe einen handelsüblichen Digital-Fotoapparat dabei. Das ist natürlich schon etwas umständlicher, als einfach den Schieber des Handys zu betätigen und auszulösen. Aber auch hieran werde ich mich gewöhnen. (Und ich hoffe, Euch gefallen diese neuen Fotos genauso gut, wie die bisherigen)


Routine? Im ersten Berg, dem Col des Montets.


Bis zu einem kleinen Dörfchen mit dem klingenden Namen Servoz bei Kilometer 50 (Was?! 50 Kilometer schon? Sind dann ja nur noch 280 ...) passiert nicht viel. Wir sind flott unterwegs, ohne allzu sehr zu pressen. Es dämmert, obschon ich weitaus beeindruckendere Sonnenaufgänge auf dem Rennrad erleben durfte. Durch die nebelgeschwängerte Luft hängt hier allerdings heute nur eine fahlblasse Sonnenscheibe, die nur äußerst selten durch die grauen Wolken kommt, am Himmel.

Der Col des Montets ist kein "Berg" im klassischen Sinne. Ja, es ist ein Pass, aber einer der kleinen Sorte. Mit 7 Kilometern und 7, 8 % Steigung auch kein Burner. Denke ich mir so, als ich in ihn hinein steuere. 

Ein ganz anderes Problem habe ich gerade: Die Hitze.


Noch sind wir dicht beieinander. Das wird sich gleich ändern.

Ich habe noch im Hotel lange meine Bekleidungswahl hin und her geändert. Und mich schließlich für Nummer Sicher entschieden, ohne mich dabei allzu sehr für das eine oder andere Extrem zu entscheiden. Unter meinem Langarm-Trikot von Cervélo fahre ich eine winddichte Weste, darunter ein Kurzarm-Trikot und ein kurzes Thermo-Unterhemd. In der Trikot-Tasche führe ich noch ein Langarm-Trikot als Softshell-Variante für die kalten Abfahrten mit. 

Ansonsten kann jeder Teilnehmer an zwei der Labestationen - es gibt hier insgesamt sieben von ihnen - jeweils einen kleinen Rucksack postieren. Ich finde zwei übertrieben (was ich beim nächsten Mal definitiv anders machen werde!) und postiere in La Salle, bei Kilometer 206 des Rennens nach dem Grand Saint Bernard und vor dem gefürchteten Colle San Carlo, einen Rucksack mit einem Langarm-Unterhemd, frischen Socken, einer frischen Hose und einem frischen Trikot. Dazu ein Handtuch.

Jedenfalls - unter meinen 4 Schichten fange ich tierisch zu schwitzen an. Das Langarm ist längst schon offen, flattert hinter mir, Weste und Trikot ebenfalls geöffnet. Wenn ich mir da meine Mitstreiter besehe: Teilweise in kurz/kurz unterwegs und ohne erkennbare weitere Klamotten am Mann. Haben die dann tatsächlich vor dem Grand Saint Bernard, dem ersten wirklich hohen Berg, ihre Tüten postiert?

Immer wieder fingere ich mir die Reißverschlüsse noch etwas mehr auf: Kälte! Ich brauche Kälte!


Beeinruckend: Der Mont Blanc ist hier Programm.

Der Mont Blanc hat bei der Tour du Mont Blanc seinen Auftritt. Er ist der Star, spielt die erste Geige. Ist Hauptdarsteller und doch - unerreichbar. Zwar werden wir diesen höchsten Berg Frankreichs und mithin die höchste Erhebung der Alpen von allen 360 Grad-Blickwinkeln sehen können, aber niemals seine Flanken befahren. Dennoch: Der weiße Berg, oder "Monte Bianco", wie er nachher in Italien heißen wird, fesselt immer wieder meine Blicke.

Den Montets habe ich schnell erklommen. Nichts weltbewegendes, nichts, was ich an Schwierigkeiten oder besonders schönen Eindrücken berichten könnte. 7 Kilometer Anstieg, die vergehen fast wie im Fluge.

Noch fühle ich mich wunderbar. Alles scheint zu klappen, auch meine Befürchtung, dass der Durchfall und das leckere, doch irgendwie allzu schwere Essen von gestern irgendwie auf den Magen schlagen könnten, erweist sich als unbegründet. Zu meiner Verwunderung, denn ich hatte bei diesem kleinen, feinen Peloton doch mit höherem Tempo gerechnet, sehe ich mich noch von recht vielen Mitstreitern umgeben: Entweder machen die bewusst langsam oder ich bin heute wirklich gut drauf, dass ich mithalten kann?


Die Tour du Mont Blanc hält etliche Tunnel vor. Auch deshalb ist (wenigstens das Rück-) Licht
als eine Art Lebensversicherung ob des schon recht dichten Verkehrs eigentlich Pflicht.

Der Col des Montets wird mir am Ende knappe 500 Höhenmeter auf mein Konto gutschreiben. Mehr als 8 % bietet der Anstieg nicht, kaum geht es selbst bei den engen Haarnadelkurven selbst meterweise über 10% hinaus. Angenehm und schnell zu fahren.

Plötzlich zieht eine größere Gruppe Teilnehmer an mir vorbei. Aha, denke ich mir, nun scheint es loszugehen. Ich entscheide mich - obwohl ich locker mithalten würde - aber dafür, angesichts der extremen Länge und der Aussicht auf noch ausstehende 7.500 Höhenmeter, eher mein sehr konservatives Tempo beizubehalten. 


Diese Jungs muss ich wohl ziehen lassen. Aber dass hier (massenhaft) stärkere
Fahrer am Start sind, gehört natürlich auch dazu. Und war irgendwie auch klar.

Als Orientierungspunkt habe ich mir einen Fahrer ausgemacht, der scheinbar mein Tempo fährt, den ich schon vom Start weg immer neben mir hatte. Ein netter Franzose, mit dem ich mich zwar nicht verständigen kann, der mir aber schon des öfteren zugezwinkert und mir auch mal angeboten hatte, ein Foto von mir selbst zu machen. Er trägt eine Weste der "La Marmotte", auch so ein Hammer-Rennen das ich noch auf meiner Liste habe - welches nur immer 10 Minuten nach Öffnung des Anmeldeportals ausgebucht ist.

Ihn werde ich gleich verlieren. Denn irgendwie läuft mir das hier alles fast sowieso viel zu gut ...

Trockener Asphalt, perfekte Beine - wird es wohl die nächsten 250 Kilometer auch so bleiben?


Bald kann ich zwar wieder einige Fahrer einholen, aber ich sehe am Ende der Täler bereits dunkle Wolken aufziehen. Auch riecht es sehr feucht, denn obschon es erst 9 Uhr ist, sollte die Morgenfrische aufgrund des doch recht starken Windes längst schon fortgetragen sein.

Mit 16 Grad Celsius habe ich perfektes Rennrad-Wetter erwischt. So kann es doch bleiben?!, bete ich fast zu Petrus oder den Heiligen St. Pantani empor, das wäre perfekt! Nicht zu kalt, um nicht übermäßig zu frieren, aber auch nicht allzu heiß, um im Schweiß zu versinken. Das wäre genau das Richtige, um heute zu finishen. Meine Beine sind nicht mal ansatzweise schlapp oder so - und das nach immerhin fast 90 Kilometern im Renntempo - und obwohl ich ein flaues Gefühl im Magen habe ... wenn es so bleibt? Ankommen heute? Ja klar!



Den Mont Blanc im Rücken, so geht es den Col de la Forclaz hinauf.

Denn als ich so gedankenversunken die 7 bis 8 % steilen Rampen emporkurbele, ein oder zwei Fotos mache, wechsle ich unvermittelt von "löchrigem Asphalt mit panzerbreiten Schlaglöchern" in "gar kein Asphalt, dafür haben unsere Presslufthämmer schon mal den Untergrund grob aufgearbeitet". 

Whoooaaaa!, brülle ich, als ich wie aus der Trance gerissen plötzlich fast in einem Sandhaufen stecken bleibe, das Rennrad anfängt zu schwimmen und ich reflexartig das Bein verkrampfe - nur, damit mir ein eben solcher sehr schmerzhaft die rechte Wade hinaufzischt.
Einer hinter mir hat das gesehen, schließt zu mir auf, legt mir seine Hand auf die Schulter und fragt, ob es denn noch ginge. "Yeah, thanks, mate.", bedanke ich mich. 

Den Rest der - an sich kinderleichten aber nun eben durch die fehlende Kraftübertragung eines Beines sauschwere - Steigung bin ich damit beschäftigt, ja nur nicht zu viel Druck in das beschädigte Bein zu bringen, viel, viel zu trinken und zu versuchen, bewusster zu kurbeln, um ja nicht noch so einen Krampf zu riskieren.

Saublöd! Da hätten die Streckenverantwortlichen ja auch mal ein Schild aufstellen können. Oder: Hatten sie das, ich hab es nur übersehen?


Man möchte eigentlich anhalten und eine Staffelei mit Pinsel & Farbe auspacken, so schön
ist es hier in der Haute Savoie.

Irgendwann kurz vor dem Col wird die Straße dann wieder fest. Oder was man so "fest" nennen könnte: Kontinentalplattengroße Asphaltstücke sind angesichts des Kiesuntergrundes von vorhin allerdings schon ein gewaltiger Fortschritt.

Die Abfahrt ist genauso blass, wie der Anstieg selbst. Kaum richtig schnell, und kaum hat man sich auf das Downhill eingelassen, ist es auch schon wieder vorbei.


In den Col de la Forclaz: Runder Tritt und dicke Waden.


Der Forclaz wird bei Quäldich.de, zumindest die Rampe, die wir nehmen, gar nicht erwähnt. Er gilt als "kleiner Kicker", den man sich mal zwischendurch, etwa auf einer Runde über den Grand Saint Bernard, mal einbauen kann. Auch wieder keine 500 Höhenmeter gilt es zu überwinden. 


Wieder so ein Langweiler. Denke ich noch so am Anfang ...


Bedrohlich ziehen nun dichte und weitaus dunklere Wolken mit
geradezu wahnsinniger Geschwindigkeit um die Spitzen der Berge.

Mittlerweile vollkommen allein gleite ich die letzten Meter Abfahrt hinunter und kann eine Menge Schwung mitnehmen, als es durch ein, zwei Dörfer geht. 

Ich beschaue mir die Garmin-Daten bisher: Knappe 90 Kilometer geschafft. Nach dem Col werde ich sicher mehr als 100 Kilometer haben. Ein Drittel also im Sack. Doch auf meinem Höhenmeter-Konto sehe ich noch keine 700 von denen. Wie hatten sie beim Briefing gesagt: "Die erste Hälfte haben wir durch die Wegnahme des Anstieges nach Champex Lac etwas entschärft. Es ist eine einfache Hälfte. Die Zweite jedoch ist wesentlich schwerer geworden - auch dann, wenn die Gesamtdistanz nun nicht mehr 330, sondern nur noch 326 km beträgt und Ihr auch "nur" noch 7.800 Höhenmeter zu bewältigen habt."

Im italienischen Part wird heute der Gran Fondo Monte Bianco veranstaltet, der eine sichere Befahrung bis Champex Lac unmöglich machte. Zwar frage ich mich, warum man das erst ein paar Tage vor Veranstaltungsbeginn merkte, aber okay.

Als es anzieht und sich links und rechts neben mir beeindruckende Felswände aufbauen, denke ich weiter über das Briefing nach.


Hinter dieser Kurve beginnt die Hölle.

Sie hatten mit Champex Lac schon eine sehr steile Rampe im Ursprungskurs eingebaut: 9 Kilometer mit konstant 9 % im Schnitt, und dann, kurz vor dem Gipfel, 400 Meter bei durchgehend 18%. Eine doppelt fiese Steigung also wie meine Hamburger Haussteigung, der Waseberg.

Christina Rausch, die aufgrund ihres Unfalls heute leider nicht mit am Start sein konnte, hatte mich noch vor dem Col de Champex gewarnt: "Der ist richtig steil, nie flach und verlangt am Ende richtig viel Kraft! Das war bei mir 2012 der Punkt, an dem ich meinen Einbruch hatte!" Christina und Einbruch? Die Frau fährt das RATA in 28 Stunden! Na hossa, dachte ich mir noch bis vor 3 Tagen. Als eine E-Mail des Veranstalters kam: Strecke geändert.

Und nun also der Colle San Carlo, den sie uns nach dem Gran Saint Bernard und vor den Petit Saint Bernard gesetzt hatten. Eine Lektüre der Quäldich.de-Berichte ließen mir schnell einen Kloß im Hals wachsen: Der ist ja noch schlimmer!

Bevor ich aber dazu komme, mich noch weiter in Ehrfurchtsgedanken ob der kommenden Cols zu ergeben, schlägt plötzlich hinter einer Kurve das Wetter um.


Genau bei dieser kleinen Kirche fängt es an zu regnen. Und es wird erst in 2 Tagen wieder aufhören.

Verdammt!, raune ich, als mich die ersten Tropfen treffen. Ich ziehe schnell alle Reißverschlüsse zu, mache das Foto, das den Beginn des Martyriums dokumentieren soll, dann, keine 2 Minuten später, prasselt es richtig runter. Zum Fluchen habe ich keine Zeit mehr, denn schnell sinkt die Temperatur, noch schneller ziehen die Prozente an und plötzlich habe ich mit Spritzwasser, durchnässenden Füßen und Armen, Wasser auf und hinter der Brille und ... schlechter Laune zu kämpfen.


Das Blatt wendet sich.


Okay, wer behauptet, dass er gern bei Regen Rennrad fährt, der ist einfach ein Lügner. Niemand kann das gerne mögen. Die Kimme ist als erstes nass, wenig später die Schienbeine, die das Wasser - egal, ob man wie ich Beinlinge und Füßlinge trägt - in die Schuhe tragen. Keine 15 Minuten bei diesem Regen und ich bin durchgenässt. Bei 13 Grad. Na bitte!


1/3 der Strecke im Sack. Ab jetzt sechseinhalb Stunden nur noch im Regen. Herrlich.

Zwar kann ich meine "Innentemperatur" hier im Anstieg sehr gut halten, aber ich fühle, wie die Klamotten immer schwerer werden, weil sich alles mit Wasser vollsaugt. Schnell verstaue ich die Kamera einige Schichten weiter unten (was wenig bringt, aber egal), drücke mir noch ein Gel rein, Zeit war es ja, und versuche, mich nicht allzu sehr zu ärgern.

Kommt ja mit Ansage. War abzusehen. Du hast das gewusst. Und hey: Schlimmer als die Regenschlacht vom Zeitfahren Hamburg-Berlin 2013 kann das doch nicht werden? Oder die ersten 150 Kilometer von Mailand-Sanremo?

Nur: Da musste ich auch nicht auf 2.500 Meter Höhe. Bei 7 Grad.


Das ist richtig starker Regen. 

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich das Fahren bei Regen verabscheue. Alles klebt, alles dampft, alles zittert. Jedes vorbeifahrende Auto knallt dir eine weitere Welle dreckigen Schmutzwassers in Klamotten und Bike, von hinten spritzt es hoch, von oben läuft es nach.

Es pladdert richtig herunter. Die Tropfen bilden Myriarden Explosionen auf dem Asphalt. Eigentlich ganz nett. Und doch so Scheiße. "Nicht mein Wetter", das gilt für Kälte. Oder übermäßige Hitze. Das hier aber ist schlimmer. Jede Faser meiner Körpers hasst es, im Regen Rennrad zu fahren. Wenn ich meine Hände zur Faust balle, wringe ich einen Liter braunes Schmutzwasser aus den voll gesogenen Handschuhen. Noch friere ich nicht. Noch ziehe ich nur einen Flunsch.

Sonderbar: Ich höre nichts. Die Stille; piept da ein Vogel?; passt gar nicht zum Artillerie-Feuer aus H2O, das auf mich daniedergeht. Auch surrt meine Kette gewohnt unhörbar durchs Schaltwerk. Müsste das - passend zur Kulisse - nicht längst schon lärmendes Quietschen sein?

Vorn sind die beiden Mitstreiter im Gischt des Regenvorhangs verschwunden.

Ich erreiche den Col, keine Ahnung, wie es da ausgesehen hat. Ich habe nur ein Ziel: Runter, schnell (aber sicher!) runter!


Pitschnass, rutschig & gefährlich: Abfahrten bei Regen fordern vom Rennrad-Fahrer viel Können und
vor allem Fingerspitzengefühl.

Die Abfahrt nach Martigny mutiert zur Achterbahnfahrt der Gefühle. Im Trockenen wäre das ein Geniestreich gewesen: Fast ohne größere Kurven, nur ein, zwei Haarnadeln, geht es an einer fast senkrecht abfallenden Bergwand, bepflanzt mit Weinstöcken, ins Tal. Man hätte einen Hammer-Ausblick und könnte aufgrund der langen Geradeaus-Stücke richtig abziehen lassen.

Ich kann das heute aber nicht.

Kaum fahre ich die ersten 500 Meter bergab merke ich, um wie viel stärker es plötzlich die Nässe literweise in mich hinein drückt. Unten schmatzt es in meinen Schuhen, denn ich stehe bis zu den Knöcheln in kaltem Wasser. Schon zittere ich wie Espenlaub, denn selbstverständlich schützt mich keine der 4 Schichten, die ich anhabe, nun mehr vor der Kälte: Durchgeweicht habe ich hier eine 1A Kältebrücke am Leib.

Abbremsen bringt nicht wirklich viel: So ist der Windchill-Effekt zwar etwas geringer, dafür bleibe ich länger im Regen.

Plötzlich trifft mich von der Talseite eine heftige Böe, wirft mich fast um. "Alter ...!", will ich gerade fluchen, fange das Rad ab, als mich eine weitere und dann noch eine fängt. Harte Schläge von der Seite zerren an dem Rennrad - immer und immer wieder. Immerhin bin ich hier dann doch mit bis zu 60 km/h und bei nicht wirklich wenig Verkehr unterwegs. Martin, der hier in der Nähe oft seine Ferien verbringt, hatte mich gewarnt: "Es herrscht da oft ein starker Föhn!" Wieder hat eine Böe mein Rad im Griff, wirft mich unsicher auf der rutschigen Fahrbahn hin und her. Die Autos, die mich hier allenthalben überholen, nehmen auf diese teilweise heftigen Spurwechsel Rücksicht. Hoffe ich.

Was machen nur die, die hier mit Aero-Rennrädern und Hochprofilfelgen antreten?, will ich mir gerade ausmalen, wie es wäre, wenn ich mit meinem Cervélo S5 hier am Start gewesen wäre, als mich der nächste Schlag trifft. 


Ich bin hier schon fast unten, doch der Puls wird noch eine Weile
auf 200er-Niveau bleiben. Ein Abschnitt, den ich noch oft (alp-)träumen werde.


Plötzlich fängt mein Hinterrad an, auszubrechen. Es flattert. Ich schalte sofort: Schwammiges Fahrverhalten, flattern, kaum noch Bremswirkung? Platten! Ich wage es nicht, auf das Garmin zu schauen (abgesehen davon, dass das komplett unter Wasser steht und ich eh nix erkannt hätte), ich schätze meine Geschwindigkeit aber auf 50 km/h.

Nun nichts überstürzen. Bremsen, ganz langsam!
Ich ziehe an den Hebeln. Nichts passiert. Dafür nimmt das Flattern zu. Schon reißt es mir den Lenker von links nach rechts, so, als säße hier Muhammad Ali auf dem Sattel, ich zucke hin und her, mir schießt alles ins Gesicht, Schweiß, Röte, Hitze, Rotz, mir wird heiß: "Ist das der Sturz jetzt?", zuckt es mir durchs Hirn. Hinter mir hupen sie, wahrscheinlich ein Autofahrer, der meine Misére bemerkt hat. SCHLAG SCHLAG SCHLAG! - immer härter, immer schneller. Angst! Ich klicke meinen linken Fuß aus - breit machen, balancieren! - und ziehe weiter an der Bremse. Die ächzt und knarrt, verzögert aber nicht - klar, steht ja alles unter Wasser. Und hinten bremst der eh kaum. Nur wenn ich vorne mehr ziehe, kann ich mich ja gleich hinwerfen. Es schlackert, schlägt richtig in den Rahmen, Geräusche, die ich noch nie von einem Carbon-Rennrad gehört habe, wieder hupt der Fahrer kurz, Scheiße, Scheiße!, denke ich, rechts neben mir geht es 400, 500 Meter in die Tiefe, vorher hat mich wahrscheinlich die messerscharfe Leitplanke aufgeschlitzt. Zwei Rennradler schießen an mir vorbei, mir schlägts nun in die Ellen, mein Rad bäumt sich auf, ich rutsche, stürze ich schon?; und ... Alter! ... stehe endlich. Klicke rechts aus. Stehen. Stand. Sicher!

Das Auto hält neben mir. Eine kreidebleiche Frau. Kinder mit offenen Mündern im Fond. Sie spricht einen kreidebleichen Rennradfahrer an. "Alles gut?", will sie wissen. Ich kann irgendwie wohl lächeln: "Klar. Alles fein.", sage ich. Bekomme isogar ein vertrauensvolles Nicken hin. 

Als sie weiterfährt und ich da so herzklopfend und Adrenalin-tropfend im Regen stehe, würde ich mir jetzt spontan sehr gern, sehr heiß in die Bib-Shorts scheißen.

Das war die längste Vollbremsung aller Zeiten. Und wahrscheinlich haarscharf an meinem ersten Sturz vorbei.

"Fuck!", fluche ich, als ich wieder halbwegs atmen kann. Und in dieser Waschküche, ohne Seitenstreifen, an einem Steilhang nen Schlauch wechseln? Fuck you!, Rennrad-Gott.

Nur: Meinen Platten kann ich nicht entdecken. Das Rad steht da. Perfekt aufgepumpt. 8,5 bar auf beiden Pneus. Als ich wieder anfange zu zittern bemerke ich endlich, dass es die Kälte und mein Schlottern waren, die mir hier beinahe Kopf und Kragen gekostet haben.

Mit um die 15 km/h (mein Schnitt ist mir jetzt herzlich egal) bremse ich mich den Rest nach Martigny hinab. Gott, habe ich die Schnauze voll jetzt!



Man sieht es nicht: Aber hier im Zelt machen gerade an die 10 Teilnehmer Pause.

Hier in Martigny wollte ich eigentlich Martin treffen. Martin kenne ich aus Hamburg. Ein saustarker Fahrer, ein Hammer Mechaniker und ein super sympathischer Typ. Hier am Rondell bei der Tanke, direkt nach der Abfahrt und zur Auffahrt zum Col du Grand Saint Bernard wollten wir uns treffen. Ich fahre ein, zwei Runden, finde ihn nicht. Kein Anruf - mein neues Telefon hat natürlich seine Nummer wieder nicht. Also allein auf den Großen Sankt Bernard. Egal. Mir ist jetzt irgendwie alles egal.


Ich kurbele stoisch los. Vorher mache ich Pause an einer der Labestationen. Kilometer 116. Es ist kurz vor 10 Uhr morgens. Ich bin viereinhalb Stunden unterwegs. Komplett durchnässt bis auf die Knochen. Meine Muskeln sind fit, aber ich friere, zittere wie ein armer Kirchenhund. Mein Magen knurrt, als ich vollkommen demotiviert am Zelt ankomme, unter dem sich 8, vielleicht 10 Mitleidende drängeln und sich Camembert-Viertel zu Baguette in den Mund schieben.

Als ich das Rennrad unter einem Vordach parke - soll ja schön trocken stehen, das gute Stück... - und am Van der Veranstalter vorbei komme, in dem die Kisten mit weiterem Proviant stehen, sehe ich einen im Fond sitzen. Nass, tropfend, starrer Blick nach unten. Beine und Torso zittern, was ich am blinken und funkeln der Erste-Hilfe-Folie sehen kann, in die er gehüllt ist. DNF. 


In den Col du Grand Saint Bernard: Wieder guter Dinge. Noch.


Was genau mir auf einmal so gute Laune verschafft hat, ich weiß es nicht. Mein körperlicher Zustand wird es kaum gewesen sein: Ich sehe jämmerlich aus. Fühle mich auch so, demnach kann es auch nicht meine starke Psyche sein. Der dichte Verkehr, der da in Richtung Bernard-Tunnel fast im Sekundentakt gischtumwoben an mir vorbeischießt, wird es auch nicht sein und sicherlich auch nicht die Aussicht darauf, jetzt den längsten Anstieg aller Zeiten vor sich zu haben.


Noch ist die Steigung bei 4-5 % eher ein Witz. Dafür nervt dichter, schneller und mitunter schwerer Verkehr. 

Die Auffahrt zum Col du Grand Saint Bernard gilt nicht ohne Grund als eine der längsten und damit schwersten in den Alpen. Ganze 45 Kilometer habe ich ab Martigny vor mir, um die 2.009 (!) Höhenmeter am Stück abzustrampeln. Damit ist der Grand Saint Bernard der Anstieg, der die meisten Höhenmeter zu bieten hat. Nicht einmal der höchste asphaltierte Pass Europas, der Stelvio und auch nicht hinauf zur höchsten asphaltierten Straße Europas, die Cime de la Bonette, überbrücken mehr Vertikale.

Was im übrigen nur die halbe Wahrheit über den Grand Bernard ist. Aber von der anderen Hälfte weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts.

Wie gesagt, was auch immer mich motiviert hat, ich trete wieder halbwegs gleichmäßig und kann mich schnell wieder erwärmen. Die - ich möchte es kaum "Abfahrt" nennen - Beinahe-Katastrophe vom Forclaz ist mir ganz schön in die kalten Glieder gefahren. Nun komme ich langsam in den Tritt, drücke mir noch ein Gel rein - an jedem Berg will ich ein "Steigungsgel" essen - und bin eigentlich wieder ganz guter Dinge.


So sieht Spaß aus? Ja. Mit einigen Tagen Abstand würde ich das als solchen bezeichnen. 

Allein, das Wetter macht mir mehr und mehr zu schaffen. Durch meine beiden Bibs, die ich anhabe, die natürlich auch komplett durchnässt sind, scheuert mein Hintern auf dem nassen Sattel ununterbrochen. Selbst durchnässt ist seine Haut natürlich aufgedunsen, weich - und anfällig. Schon plagen mich deshalb natürlich ungewöhnlich früh heftige Sitzbeschwerden, die ich nur mühsam durch stetige Positionsveränderung auf dem Sattel ausgleichen kann. 

Bis Sembrancher sind es etwa 7 oder 8 Kilometer, die ich meine halbwegs neue gute Laune retten kann. Dann geht es rechts herum weiter nach Orsieres (wo wir vom Col de Champex wieder auf diese Strecke eingebogen wären) und hier übermannt mich - nachdem es auch spürbar steiler wird - wieder das altbekannte, dumpfe Gefühl. 

Und angesichts der Distanz, die ich hier noch zu überbrücken habe in diesem Kackwetter, auch vollkommen verständlich.

"Ab dem Tunnel wird es dafür ... äh ... richtig Scheiße." Eine Fata Morgana erscheint mir.


Doch plötzlich eine Stimme aus dem Off: "Da ist ja der Lars!", sagt jemand ganz ruhig und sonor. Ich denke, ich fantasiere, höre nicht richtig, schüttele meinen Helm und löse meinen Blick von den Lenkerhörnchen. Da steht in einer Haltebucht ein Van, Kofferraum offen. Einer schwingt sich gerade auf ein blitzeblankes Giant-Bike, selbst in blütenweiße, sogar bis zu mir frisch nach Perwoll duftende RG Uni-Hamburg Klamotten.

"Martin!", stöhne ich, fast so, als habe ich eine Fata Morgana gesehen. Seinen Eltern, die ihn hier hoch chauffiert haben, schüttle ich die Hand. Ihn umarme ich. "Hier bist Du also!" Schnell ist das Mißverständnis vom Kreisel in Martigny geklärt, Martin sattelt die Pferde: "Lass uns gemeinsam den Gr0ßen Bernard erklimmen!". 

Und so fährt Martin mit frischen, beängstigend dicken Waden voran. Einen runden Tritt dank Leistungsmesser findend. Ich hintendrein. 


Im Schneetunnel - etliche Kilometer!

Die Serpentinen ab Rive Haute fahren wir noch unter freiem Himmel - dann müssen wir unter einen Schneetunnel. Ein unschöner Betonklotz, gottseidank zu unserer Seit hin offen. Die Steigung beträgt jetzt permanent 8 bis 9 %, was recht steil aber angenehm zu fahren ist, weil es keinerlei Rhythmuswechsel gibt. Ich kann hier nun endlich etwas abtrocknen, was ich anfangs kaum bemerke, da mich die horrende Lautstärke der durch den Tunnel ballernden Autos und LKW massiv nervt.

Kein Sicherheitsabstand: Neben und die Leitplanke. Dann, weit unten, eine satte, grüne Alm. Wir passieren einige Nebelbänke und nach einigen Kilometern klart es sogar auf. Wenig später ist auch der Regen wie abgestellt.

"Na bitte!", meine ich und freue mich.
"Ja. Sehr cool.", mein Martin. Und will mir helfen, als er seine Erfahrungen mit diesem Berg mit mir teilen will: "Das bleibt jetzt für 25 Kilometer so.", meint er.
Ich ziehe einen Flunsch. Es sind zwar nur 23, aber das ist auch noch ätzend genug. "Dann fahren die Autos in den Tunnel - wir biegen ab und nehmen die alte Passstraße." Ah, das klingt besser. "Die ist dann aber richtig steil!", meint Martin weiter.

"Wie steil?", frage ich.
Er antwortet nicht in Prozent. Sagt nur: "Für so 10 Kilometer." Na hossa. Helm ab zum Gebet!

Elend lange kurbeln wir. Wie lange, das kann ich nicht sagen, denn seit einigen (Stunden?) ist mein Garmin Edge außer Gefecht. Es hat scheinbar den Sensor für die barometrische Höhenmessung durch das viele Wasser entschärft, vielleicht sind auch ein, zwei, neun Liter eingedrungen, jedenfalls erhielt ich schon im Col de la Forclaz in der Steigung Prozentwerte von -17 und bin dann gern auch mal 89 km/h gefahren.

Ich traue keiner Kilometerangabe mehr, nicht den Höhenmetern und den Prozenten schon gar nicht. Ärgerlich! Doch mein Ärger über das Geräte und ab und zu ein paat Sätze mit Martin lassen die Zeit vergehen. Irgendwann. Biegen wir rechts ab, verlassen den stickigen, unangenehmen Tunnel und finden uns auf einer Alm wieder.

"Da hinten. Oben. Hinter der Wolke. Da ist der Pass", sagt Martin. Ich schätze - und habe nicht ganz unrecht - dass das bestimmt noch so 400 bis 500 Höhenmeter sind. 


Jetzt geht es richtig steil: Die letzten 10 km des Grand Bernard sind die Hölle. Mit bis zu 13 %. Und nie unter 10 %.

Und dann geht die Lehrstunde in Sachen "Pässe, von denen ich noch keinen Arschtritt bekommen habe" so richtig los.

Mir ist dieser Pass in meinen 4 Jahren als aktiver Radsportler noch nie untergekommen. In keinem Buch habe ich jemals bewusst von ihm gelesen, kein Rennen, das ich kennen würde, hätte mir je etwas über den Grand Saint Bernard erzählt, auch mein jahrelanges Abo des Tour-Magazins, die Dutzende am Kiosk gekaufter RoadBikes und auch keine der zig ProCycling-Ausgaben haben da auch nie etwas von hören lassen. Weißes Blatt. Ich dachte vorher immer, der Pass der Alpen wäre der Stelvio. Oder meinetwegen auch die Tour de France-Heroen wie Izoard, Iseran oder Vars. Aber von diesem hier. Nee, nix.



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Hätte ich gern was von erfahren. Hätte gern gewusst, was mir hier blüht.

Es geht sofort nach Verlassen des Schneetunnels steil. Und damit meine ich nicht so semi-steil, 9, 10 %, ich meine richtig steil. Die harte Nummer. 13%. Dreizehn!

Ja. 13%, trittste weg. Klar. Knorke. Rampen halt. Kein Ding. Oft gemacht, gern genommen. Schnaufste drüber, kurbelste durch, gehste kurz aus´m Sattel, wa? Digger? 
Aber nein. Nicht hier. 

Hier bleibt das so.

Ich ächze die Meter eher weg, als dass ich sie fahre. Kamen mir unsere - geschätzten - 8, 9, 10 km/h im Schneetunnel, die wir gerade 23 Kilometer lang gekrochen sind, schon langsam vor. Jetzt stecke ich hier mit 5, 6 km/h an der Umfallgrenze in der Vertikalen. Mir bleibt nicht mal Spucke, um Fuck! zu sagen.


Dieses Geschlängel, Blick zurück, fordert nach fast 30 Kilometern im 
Anstieg des Grand Saint Bernard alles. 13%. Fast durchgehend.

Dafür gewinnen wir an Höhe. Schnell. Sehr schnell. Als ich durch eine Haarnadelkurve auf unsere Strecke zurück blicken kann, hinab ins Tal, ist der Ausblick Atem beraubend. Deswegen mache ich das hier alles, zieht es mir durch den Schädel - was für eine grandiose Kulisse! Mir springt das Herz im nassen Shirt. Es ist ein Traumausblick!

Bei all der Euphorie merke ich kaum, wie rapide die Temperatur sinkt - bis auf 7 Grad auf dem Gipfel geht sie nach unten. Außer, wir werden durch die Straße gegen den Wind gezwungen, dann bläst es uns eisig entgegen, dass es mir schlagartig die Sprache verschlägt.

Dann zieht es umso stärker in den Waden, hat es den Anschein. Wie in Super-Slowmo dreht sich nun nur noch die Kurbel unter mir, das Tretlager ächzt. Wie zäh, in einer anderen Dimension gefangen, wo die Zeit anderen Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen hat, breiig, wie in einem Teig gefangen, nur sehr schwer kann ich mir Meter um Meter erkämpfen. Wahrlich: Dieser Grand Saint Bernard gibt keinen einzigen Meter Höhe hier freiwillig heraus.


Es regnet zum Glück nicht mehr. Dafür ist es arschkalt.

Wir schrauben uns dennoch stetig höher. Die Landschaft wechselt sich, das breite Tal, durch das wir gekommen sind, wird immer schärfer geschnitten, enger umschlingen uns schroffe Felsen. Blicke ich mich um, nach hinten, sehe ich unter uns dichten Nadelwald. Oben - so der dichte Nebel die Sicht einmal kurz freigibt - kahle Felsen, Geröll und hier und da kleine Baumkonglomerate. 

Eine Starkstromleitung erklimmt auf noch abenteuerlicherem Pfad als dem unsigen diesen Pass. Dort hoch oben, ich kann die Leitungen, die hier neben mir noch in der fast einhunderprozentigen Luftfeuchte laut brutzeln, mit den Augen ganz schnell hochfahren. Sonderbares Kontrastprogramm zu unserem beschwerlichen Endaufstieg hier.

Irgendwann ein Schild. "Sommet 4 km" steht da. Neben und oftmals vor mir kurbelt Martin fast ohne Gefühlsregung stoisch die Steigung hinauf. So fit wäre ich jetzt auch gern.


Nur noch 4.000 Meter bis zur Passhöhe. Traum-An- und Aussichten hier auf und vom Grand Saint Bernard.

Wir arbeiten uns langsam an einen anderen Teilnehmer dieses Rennens heran. Kleiner 54er Rahmen, unrunder und beschwerlicher Tritt: Sieht das bei mir gerade auch so bemitleidenswert aus? Kurz, bevor wir ihn überholen können, scheint seine Koordinationsfähigkeit einen Knicks zu bekommen, er kurbelt scheinbar ins Leere - fällt vor uns einfach auf den Asphalt. Buchstäblich in 13 % stecken geblieben. "Fahr´ weiter!", befiehlt Martin fast schon, hält selbst an und hilft ihm auf die Beine.

Wenige Minuten später ist er wieder neben mir: "Hat sich ganz schön die Knie aufgeschlagen, der Gute." Na, der wird damit sicher noch Spaß haben: Der Grand Saint Bernard ist gerade mal der dritte von sieben Bergen - und mithin der erste richtige.


Mein Meister: Der Gran Saint Bernard, ein Berg der Superlative.


Es geht dann irgendwie doch alles ganz schnell. Die letzten 2.000 Meter vergehen buchstäblich wie im Fluge. Es ist nicht so, dass ich mehr Kräfte hätte auf einmal, auch wenn ich mir vor lauter Mangel an selbiger ganz verzweifelt und außer Puste noch ein Gel reindrücke. Zwar scheine ich mich immer mehr an diese außerordentlich steilen Rampen zu gewöhnen, aber es ist etwas anderes, das mich hier hochtreibt.


Dieser Pass rangiert in meiner Beliebtheitsliste nun weit vor dem Col d´Aubisque und dem Stelvio!

Es ist eine Mischung aus Verzückung und Begeisterung ob dieses wahnsinnig schweren, schönen Passes und die mit jedem Meter, den ich meistere, sich einstellende Feststellung diesen, unfassbar lange, unfassbare 45 Kilometer lange Anfahrt auf den Pass nun gleich endgültig gemeistert zu haben.

Ich beglückwünsche mich innerlich dazu, an diesem Rennen teilgenommen zu haben: Allein diesen Pass gefahren zu sein entschädigt. Ein unglaubliches Gefühl, das ich lange schon nicht mehr, vielleicht das letzte Mal am Col d´Aubisque bei meiner Tour de France 2011 gespürt habe: Dieses absolute Überwältigtsein von der Schönheit dieser Natur, der gewagten Ingenieurskunst, eine so abenteuerlich geschwungene Straße dem Fels abzuringen und der Chuzpe, uns diese Steilheit auch noch unverfroren vorzusetzen.

Ein wahrer Leckerbissen für Pässesammler. Eine Ode an das Rennrad: Hier kann es sein, was es im Kern seiner selbst ist - ein Klettergerät par excellance. Und ich, als sein Fahrer, darf hier höchstens die zweiten Geige spielen, werde geprüft, ob ich seiner würdig bin.

In 1.000 Metern bin ich es dann auch.


Vor uns die beiden Rennrad-Touristen dort werden gleich absteigen und schieben. 


Die Passhöhe kündigt sich hinter einer lang gezogenen Rechtskurve an. Zwei alte Häuser säumen eine in die letzten dutzend Meter Felsgrat gesprengte, enge Straße. Sie markieren den Pass. Wir kurbeln durch, ich sage sowas wie "Yeah", es ist mehr ein Hauchen.

Martins Eltern stehen da - wie schon an einigen anderen Punkten des Passes - winken und machen Fotos von ihrem Sohn. Ich bin froh, diesen krassen Berg endlich geschafft zu haben, Martin ist froh, dieses Training nicht allein gemacht haben zu müssen.

Vom Scheitelpunkt der Abfahrt des Forclaz in Martigny bis hier oben habe ich fast drei volle Stunden gebraucht: 670 Höhenmeter pro Stunde also. Ein Wert, der ebenso wenig etwas aussagt über meinen Zustand wie über die Schwere dieses Passes. Vom Wetter ganz zu schweigen.

2.009 Höhenmeter am Stück, davon die letzten 10 Kilometer bei horrenden Prozenten. Im Grand Saint Bernard habe ich wirklich meinen Meister gefunden!


Verdientes Poserfoto: Oben auf, am Col du Grand Saint Bernard. Danke Martin, für die tolle Gesellschaft!

Wir rollen auf der anderen Seite des Passes - ein kleiner See, spiegelglatt (wo ist der scharfe Wind hin?), fängt den Nebel ein - etwas hinab, passieren eine Schranke, die die Staatsgrenze zu Italien markiert und halten am Verpflegungszelt unserer Rennveranstalter.

Ich zittere fast augenblicklich: 7 Grad, wird mir das Garmin später sagen. 7 Grad, das ist richtig kalt! Es dauert keine 2 Minuten und die Hitze des Aufstieges ist durch die eiskalten, klammen Klamotten entwichen.

Im Zelt dampft heiße - leider unter normalen Umständen ungenießbar schmeckende - Nudelsuppe vor sich hin. Martin bekommt auch einen Becher (wieder ein Zeichen für die geniale, familiäre Organisation: Hier interessiert es keinen, ob er eine Startnummer hat oder nicht, sie teilen ihr Essen mit ihm, sehen in ihm nur einen frierenden, hungrigen Sportler. Eine tolle Einstellung!).

Ich kippe mir hastig zwei sehr heiße Becher Nudelsuppe in den Rachen - sie sättigen kaum, der Geschmack, naja, ich sagte schon was dazu, auch verfliegt die heizende Wirkung leider mehr als schnell.

"Es wird Zeit, Lars," sagt Martin und deutet auf den Parkplatz, auf dem seine Eltern im warmen Van auf ihn warten: "Du solltest zügig abfahren, hier oben kühlst Du nur aus."

Recht hat er!



Ich blicke ihm kurz nach, bin neidisch: Er wird jetzt 45 Kilometer nach unten gefahren. Wahrscheinlich stellen sie die Heizung im Wagen auf "unglaublich heiß". Er wird frische, trockene Klamotten und ein dickes Frottee-Handtuch im Fond haben, sich abtrocknen. Vielleicht haben sie heißen, süßen Tee in einer Thermoskanne dabei. Weitere 20 Kilometer Fahrt später kommen sie im Ferienhaus an. Sagen wir, so in einer Stunde. Dann wird, weitere 20 Minuten später, eine heiße Wanne mit weißem Schaum fast überschwappen, in die er sich legen und sich einweichen kann.

Wo werde ich in 65 Kilometern oder eineinhalb Stunden sein? Keine Ahnung. Aber auf die eine oder andere Art werde auch ich wohl eingeweicht sein.


Windchill und Standstill.


Es regnet nicht. Das ist die einzige gute Sache an dem ganzen Vorhaben. Vorhaben? Es geht nun genau 38 Kilometer den Bernard bergab bis Aoste, oder Aosta, wie die Italiener sagen. Heimat leckerster Salami. Aber erstmal dort ankommen ... denn hinter der Kurve, die mich vom leinen Col-Plateau des Passes in die Abfahrt schickt, empfängt mich einfach nur eine undurchdringliche, weiße Wand aus Nebel.


Bevor ich dieses Foto machen kann, muss ich die ersten 5, 6 Kilometer mit gezogenen Bremsen
durch dicken Nebel schleichen. 

Ich werde gewarnt: Vor mir, und damit meine ich keine 10 Meter vor mir, taucht unvermittelt das Doppellicht zweier Autoscheinwerfer auf. Keine zwei Sekunden später rauscht es an mir vorbei. Solche Sichtverhältnisse haben wir hier also. Man sieht nichts. Ich halte zum Test meine Hand vor die Augen - strecke ich die Hand maximal von mir weg, liegt sie schon hinter einem deutlichen weißen Nebelschleier.
Wahnsinn!

Abgesehen davon, dass ich hier nun wirklich fast nur Schritt fahren kann - Kurven sehe ich erst dann, wenn ich sie schon durchfahre - sehe ich entgegen kommenden Verkehr erst im wirklich aller letzten Moment. Kreuzgefährlich!

Ich weiß nicht, ob sie auf mich gewartet hatten oder es nur Zufall ist, aber als ich abfahre, sammeln sich hinter mir 4 weitere Teilnehmer der Tour du Mont Blanc.

Mein blinkendes Rücklicht gibt mir nur spärlich Schutz. Ich fahre mit einem mulmigen Gefühl durch diese Suppe.


Beeindruckende Serpentinen in steilem Hang - könnte man bei guter Sicht und
trockenem Untergrund richtig genial hinab schießen. Heute ist hier nicht schneller als 25 angesagt.

Zudem ist es saukalt! Schon zittere und schlottere ich. "Nur ja unter 1.500 Meter Höhe!", bleue ich mir immer wieder ein, atme in langen Zügen aus und ein, versuche, die Wärme im Bauch zu halten. Doch die Nässe steckt noch in den Klamotten - keine Chance, hier irgendwie auch nur einen halben Grad Celsius behalten zu können.

Ich will unter allen Umständen vermeiden, wieder so eine Schüttelattacke wie am Forclaz zu bekommen - dort bin ich wirklich nur um Haaresbreite einem Sturz entkommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich noch einmal ein solches Aufschaukeln meines Rennrads nicht werde so glücklich abfangen können. Und vor allem: Hier zu stürzen. Es ist ja nicht so, dass die Autos unbedingt auch superlangsam fahren würden. Ob die einen - vielleicht noch auf deren Fahrbahn zum Liegen gekommenen - Gestürzten überhaupt rechtzeitig bemerken würden?

Und vor allem: Warum müssen mir sone Horrorvorstellungen gerade immer in den gefährlichen Abfahrts-Situationen kommen?

Ich kann nicht mehr, mir ist so kalt, dass ich rechts ran fahre, langsam abbremse. Hände vom Lenker und reinpusten. Wärme. Zarte Wärme! Es ist so scheißekalt, ich fühle mich nackt und ausgeliefert. Wahrscheinlich machte es sogar gar keinen Unterschied, würde ich mich hier oben ausziehen - so oder so, die 7 Grad, und mit Windchill sicher weit weniger, gelangen ungefiltert an meinen Körper.


Ich lasse mich überholen. Haben mich eh ganz kirre gemacht, die "Verfolger".

Eine Faustregel besagt, dass bei 45 km/h Fahrtwind die gefühlte Temperatur um 15 Grad sinkt. Ich erreiche hier zwar durch mein Bremsen kaum mal mehr als 35 km/h, aber selbst wenn die Temperatur bei meiner Speed um nur 7 Grad sinkt, dann fahre ich hier gerade bei 0 Grad.

Das ist Frost. Da holt Mutti sonst die Pflanzen rein.

Wann bin ich das letzte Mal bei 0 Grad Rennrad gefahren? Das war Hamburg-Berlin 2011. Da hatte ich Eisplatten am Helm und in den Armbeugen. Nur mit dem Unterschied, dass mich damals meine trockenen vier Schichten wirksam vor der Kälte geschützt haben. Hier und heute ist davon nichts.

Wie zum Henker machen das die Teilnehmer, die hier in kurz/kurz angetreten waren? Sind die wirklich alle so viel härter als ich?


Immer wieder wechseln sich Nebelbänke mit freier Sicht ab.

Langsam komme ich tiefer. Und mit jeder Serpentine, die ich mehr ins Tal komme, bringe ich Höhe weg. Spürbar wird es wärmer, wobei ich eher sagen sollte, die Kälte wird weniger. Warm würde ich das hier kaum nennen.

Nur noch selten überholt mich ein Fahrzeug. Auch habe ich, seit dem ich mich die vier Mitstreiter habe überholen lassen, keinen mehr aus unserem Feld gesehen. Bin ich langsam unterwegs? Gar letzter? Das wäre das erste mal in meinem Radsport-Dasein, dass ich am Ende eines Feldes gefahren wäre. Kann eigentlich nicht sein.

Je höher die Berge, so mein Gefühl, desto weiter entferne ich mich von zivilisatorischen Begriffen und Definitionen wie "Zeit". Wie spät ist es? Keine Ahnung. Spielt hier auch keine Rolle.

Die - es werden am Ende "nur" 35 Kilometer sein - Abfahrt bis Aoste kann ich kaum genießen. Zur Kälte gesellt sich die permanent schwelende Furcht vor einem Verbremser auf diesem schmierig-glatten Untergrund, der seit Stunden wenn schon nicht stetig beregnet, dann doch durch den Nebel feucht gehalten wird. Ich traue mich nicht, schneller als 50 km/h zu fahren.

Hier, wo man auf den langen Geraden sonst vielleicht 80, 90 km/h schaffen könnte,


Abfahrt geschafft. Nebel fast weg. Dafür regnet es wieder.

Kurz bevor ich die letzten Serpentinen bis Aoste hinabklettere, fängt es wieder an zu regnen. Na bitte - wenn bis hierher in der Abfahrt durch den Wind doch wenigstens etwas an Stoff abtrocknen konnte, nun wird wieder alles durchweicht. Zwar ist es nun spürbar wärmer im zweistelligen Zehnerbereich, dafür habe ich das Wasser wieder.


Ab Aoste: Ich treffe meine Entscheidung.


Das Wetter wechselt nun alle zwanzig Minuten. Hat es eben noch stark geregnet, trocknet hinter der nächsten Kurve alles wieder sofort ab, warmer Wind weht und Wolkenfetzen hängen tief über den Wipfeln, sind dick und dunkel vor Nässe, tragen den nächsten Guss heran.

Hier ist es dann auch, da ich meine Möglichkeiten analysiere und den Rennverlauf bis hierher, sowie die Alternativen durchgehe.


Als ob nichts gewesen wäre: Nach Aoste sieht es plötzlich wieder schön aus.

Fakt ist, dass es ab 18 Uhr einen schweren Gewittersturm geben wird. In den werde ich - das habe ich schon auf meiner Hinreise beschlossen - auf keinen Fall fahren. Fakt ist auch, dass ich vollkommen durchnässt bin, in meinen Schuhen 5 Liter kaltes Wasser stehen und ich 5 der 7 Gels verputzt habe, eines habe ich verloren, das letzte werde ich mir gleich reindrücken.

Körperlich gesehen hat mich der 45 Kilometer lange Anstieg gerade zwar nicht fertig gemacht, mich auch nicht an meine Grenze gebracht, aber ich kann sie sehen, die Leistungsgrenze. Ich rekapituliere den weiteren Streckenverlauf: Jetzt habe ich laut Garmin +4.000 Höhenmeter im Sack. Die Hälfte. Die Hälfte erst!

Es folgt demnächst der Colle San Carlo. 10 Kilometer bei 10% im Schnitt - Rampen und längere Abschnitte mit bis zu 18% stehen an. Ein richtig harter Brocken! Nach kurzer Abfahrt dann weitere 5 Kilometer auf den Petit Saint Bernard. Schaffen werde ich das wohl noch. Nur: Wann?

Bis zum San Carlo sind es noch 30 Kilometer. Rund 50 Minuten brauche ich hierfür. Für die 10 Kilometer bei 10% werde ich vielleicht 1:45, vielleicht 2 Stunden benötigen. (Mit Pinkelpause oder so). Dann weitere 10 Minuten für die kurze Abfahrt und vielleicht noch mal 50 Minuten bis zum Petit Saint Bernard.

Ich bin jetzt 8:20 Stunden unterwegs. 5:30 Uhr gestartet, es muss also 14 Uhr sein.

Dann wird es also ziemlich genau 18 Uhr sein. Wenn ich auf 2.100 Metern Höhe bin. Und das Gewitter losbricht.


Und plötzlich ist da wieder Regen. Aber auch: Andere Teilnehmer. Lange nicht gesehen.

"Auf keinen Fall!", denke ich mir. Abgesehen davon, dass ich keinerlei Lust verspüre, in einem megasteilen Anstieg mutterseelenallein in einem dichten Wald in ein Gewitter - samt Böenwalze und Sturm - zu geraten, noch mal bei 7, vielleicht weniger, Grad Celsius von über 2.000 Metern Höhe eine sehr lange Abfahrt zu machen, nur um dann gleich wieder in den 20 Kilometer langen Anstieg des Roseleand zu fahren, der mich immerhin auf 1.900 Meter Höhe bringen wird ... die Perspektive ist so oder so schlecht.

Der Regen - okay. Ist jetzt eh egal.

Die Kälte - Lungenentzündung holen? Wie lange werde ich noch unterwegs sein? Ich habe jetzt 180 Kilometer, also noch 150 Kilometer zu fahren. Das kann gut und gerne nochmal 8 Stunden brauchen.

Eine Ankunftszeit nach um 21 Uhr herum oder nach 14 Stunden Brutto habe ich realistisch angesehen. Also noch 7, 8 Stunden durch diese Kälte?

Hagel. Blitz. Donner. Sturzbäche auf den Straßen. Keine Häuser oder Hütten, die Schutz böten, kein Handyempfang und damit keinerlei Hoffnung, im Notfall wenigstens irgendwen zu erreichen?

Nee, echt. Das sind für mich eigentlich nur No-Options, keine wirklichen Alternativen. Ich entscheide mich nach gründlicher Überlegung, aber umso entschlossener, dafür, bei der nächsten Labestation dieses Rennen zu beenden. Wie gesagt: Sterben muss ich hier heute nicht.


Diese Straße führt direkt zum Mont Blanc. In rund 20 Kilometern biegt
sie nach links zum Colle San Carlo, wenig weiter kann man dann auch den Col de Petit Saint Bernard erklimmen. Ich aber heute nicht.

Einerseits genervt, dass es ab Aoste noch mehr als 20 Kilometer bergauf sind, bis ich den nächsten Verpflegungspunkt erreiche, andererseits auch irgendwie sonderbar befreit von der Last, hier heute unbedingt performen zu müssen, kann ich dann doch die letzte Stunde irgendwie noch genießen.

Ich komme in einige Schauer, durchnässe, friere, trockne wieder ab. Freue mich, als wir auf die Strecke des Gran Fondo Monte Bianco kommen, als ich einige italienische Fahrer grüßen kann und fast kommt so etwas wie Melancholie auf.

Unter einem alten Schloss, umgeben von Weinbergen, halte ich an - es sind diese kostbaren 15 Minuten direkter Sonneneinstrahlung - und pinkle in einen Busch. Ich trinke ausgiebig lange Züge aus der Flasche und lasse, zum ersten Mal heute ohne gehetzt zu sein, meinen Blick schweifen.

Dann schwinge ich mich auf mein treues, tolles Rennrad und trete rein, kann sogar wieder zu einigen Mitstreitern aufholen und erreiche schließlich La Salle - der Punkt, an dem ich "Je abandonneé" sage. Ich bin damit raus.


206ter Kilometer - in La Salle steige ich aus. Mit mir überraschend viele andere auch.

Ich spreche einen an, der eine "Staff"-Jacke trägt, was ich nun machen muss, um offiziell auszusteigen. Er schaut mich an: "Abandon like me? Go to him and tell him." Ah, er ist also einer, der auch ausgestiegen ist - sie gaben ihm nur die Jacke zum aufwärmen,

Besonders überrascht ist der Chef dieser Station, als ich zu ihm gehe, nicht wirklich. Er nickt und deutet auf ein kleines Zelt neben dem Verpflegungstisch: "You can wait with these guys over there - at 5 p.m. a bus will come to collect you."


Mein erstes Mal. Im Besenwagen. Und: Das war meine Tour du Mont Blanc.


Witzigerweise war La Salle auch die Station, an die ich meinen Wechselbeutel habe liefern lassen. Also geselle ich mich zu 6, 7 anderen Aussteigern und beginne, wenigstens meine Oberteile auszuziehen, mich mit dem stiebitzten Hotelhandtuch trocken zu rubbeln und neue Teile drüber zu ziehen. Eine Hose habe ich leider nicht dabei - auch schone ich die frischen Socken: In den nassen Schuhen würden die eh gleich wieder durchnässt werden.

An dieser Station kochen sie Spaghetti Bolognese, von der ich mir reichlich auftun lasse. So sitze ich da, angeschlagen, zitternd. Und doch, die Stimmung bessert sich: Ich sehe, wie immer mehr ankommen und fast jeder zweite aussteigt. Sie streichen ebenso wie ich die Segel: "Too cold!" oder "Too much!" fluchen sie, zittern sich in ihre Handtücher oder verdrücken sich in den Van der Veranstalter.


5 lustige Vögel im Besenwagen. 

Als ich dann 17 Uhr ungeplant in eines der Autos des Veranstalters mit 3 anderen DNFlern einsteigen kann, ist meine Stimmung eigentlich wieder ganz okay. Ich denke, ich habe hier heute eine wirklich gute Leistung gezeigt.

Mit 206 von 328 Kilometern kann ich immerhin zwei Drittel der Distanz wegtreten. Und ich bin mir sicher, die fehlenden 122 Kilometer hätte ich auch noch treten können. Sicher.


Das letzte "Stückchen" fehlt mir. Aber das hole ich nach. Sicher. (Pic by Garmin.Connect/bing.com)

Wenige Kilometer, vielleicht 5 oder 6 hinter La Salle wäre ich nach links abgebogen und hätte die 10 Kilometer harten Anstieg in den Colle San Carlo in Angriff genommen. Ich denke, die hätte ich geschafft, auch wenn sie extrem hart sind. Der Restanstieg zum Petit Saint Bernard, dessen meisten Höhenmeter ich mit dem San Carlo ja schon abgespult hätte, wäre dann auch kein Problem mehr gewesen.

Den Col du Cormet de Roseland kenne ich schon von der Haute Route - allerdings von der anderen Seite. Der Berg ist lang und birgt einige steile Abschnitte. Sicher - hier in dieser vorletzten der Steigungen hätte sich dann entscheiden, ob ich durchkommen kann oder nicht.

Jetzt, mit einer Woche Abstand, würde ich die Wahrscheinlichkeit, diesen Roseland zu erklimmen, mit 50% angeben. Wohlnichtwissend, was mich der San Carlo gekostet hätte. Eines aber, das steht fest: Wäre ich über den Roseland gekommen - den Endanstieg über Hautelouce nach Les Saisies, den hätte ich dann in jedem Fall noch irgendwie bewerkstelligt. Und wenn ich geschoben hätte!

Aber wissen kann man das natürlich nie so genau.



Dem Part ab dem 100sten Kilometer traue ich nicht mehr so ganz.
Schade, Garmin, das wäre mir wichtig gewesen. (Pic by Garmin.Connect)

Leider ebenfalls nicht so genau sind die Daten meines Garmin Edge. Ich weiß, dass es die ersten 5, vielleicht sogar 10 Kilometer des Anstiegs zum Grand Saint Bernard ein Gefälle angezeigt hat und dabei Geschwindigkeiten von bis zu 89 km/h. Jetzt lese ich da 4.200 Höhenmeter - aber ob die stimmen? Ich gehe mal davon aus, dann hätte ich etwas mehr als die Hälfte der Steigleistung dieser Tour du Mont Blanc geschafft.

Keine dollen Werte. Kein Ultra-Radmarathon, wie ich ihn angekündigt und erhofft hatte, zu fahren. Aber immerhin ein Radmarathon über 200 km und mit mehr Höhenmetern als beim Dreiländergiro.

Dennoch: Ich werde bei Aufgabe einen Schnitt von 22,1 km/h gehabt haben - komfortabel weit vor dem Mindestschnitt von 18,1 km/h und deshalb für mich ein starker Indikator, dass ich auf einem sehr guten Weg war.


DNF, the only Option: Was mir geblüht hätte.


Ich erreiche im Teamfahrzeug Les Saisies ziemlich genau um 18 Uhr. Ich bedanke mich bei unserem Fahrer (der vor einem Jahr hier bei der Haute Route die Verpflegung auf dem Col des Saisies gemacht hatte), springe in den Kofferraum meines Skoda-Kombi, schalte vorher Motor und Klimaanlage ein und ziehe mich komplett aus.

Nackt "wasche" ich mich erst einmal mit meiner italienischen Neuentdeckung, dem Risenwaschtuch "Fria" (hier ein Bericht dazu), trockne mich ab und schlüpfe endgültig in trockene Zivilklamotten. Keine 20 Minuten dauert das.

Dann gehe ich zur Stadthalle: Hunger!


Kloßbrühe - vorhin war hier noch irgendwo ein Skiort ...?

Als ich durch den Ort komme, es ist bitterkalt, zieht buchstäblich von einer Sekunde auf die andere eine dichte Nebelsuppe über uns herein. Ich bleibe stehen und schieße ein Foto.

Keine Minute später fegt eine Böenwalze heran, dass mir Angst und Bange wird: Leute schreien, im ganzen Ort fallen Dinge nach unten, die schweren Absperrgitter von heute Morgen kippen einfach um, eine große Werbetafel knallt auf parkende Fahrzeuge, von den Balkonen der Feriendomizile weht es Klamotten, Blumentöpfe und auch den einen oder anderen Plastikstuhl.

Ich renne Richtung Start/Ziel - dort sehe ich, wie 20 Männer am riesigen PowerBar-Zielbogen zerren, den der Sturm wegreißen will. Die Befestigungsleinen hat es allesamt in einem Streich entschärft.

Dann: Eiskalter, harter Regen aus riesigen Tropfen prasselt auf uns herein - ich springe schnell unter ein Vordach. Überall schreien sie, als drehte hier Roland Emmerich gerade einen neuen Streifen der Apokalypse, doch das hier ist echt.

Eine nächste Böe reißt einfach so den Stoff von den Zelten der Start/Ziel-Ausstellung, als diese vorbei ist, kriechen sie hervor und zerren schnell aus der Schusslinie, was weg muss.

Gerade kämpft sich ein geradezu vor Nässe triefender Rennradler die letzten Meter durch das Trümmerchaos - ein Fisniher! Kein Mikrofon kündigt ihn an, keiner klatscht, kaum einer nimmt ihn wahr in diesem Chaos. Ich schüttele meinen Kopf und renne in Richtung Halle.

Ich bin schon wieder klitschnass.


Der Gewittersturm kommt pünktlich auf die Minute genau. Er hat apokalyptisches Ausmaß.

Dort angekommen sitzt ein Haufen nasser Geschlagener, die so elend aussehen, dass ich mich nicht traue, ein Foto zu machen. Es sind allesamt Helfer, später kommen noch zwei Radler hinzu - ob Finisher oder DNFler, wen kümmert das jetzt noch.

Draußen bricht die Hölle los: Tiefes Donnergrollen, Blitze zucken, als ich mich am reichhaltigen und leckeren Büffett aufstelle und die Speisen checke. Sonderbarer Kontrast: Dieses Essen ist immer sowas wie die Belohnung - aber angesichts dessen, was da hinter den dünnen Scheiben abgeht - und vielleicht nur wenige Kilometer unter uns im Anstieg, könnte einem das Couscous im Munde stecken bleiben. Allein, der Hunger treibt es rein.

Plötzlich wallt heftiger Regen an, es rauscht und schwillt zu einem permanenten Grollen heran. Es prasselt Wasser hektoliterweise auf das Dach dieser Anlage. Nur kurz gehe ich vor die Tür - das Chaos auf Foto festhalten. Keins ist etwas geworden - nur eine Aufnahme des Vorplatzes, der sofort unter Wasser steht.

Ich kann nur wieder den Kopf schütteln und an die denken, die da noch unterwegs sein mögen. Ich selbst? Bin auf einmal heilfroh, nicht in dieser Scheiße zu stecken! So groß kann der Ruhm gar nicht sein, dass ich mich dem da draußen jetzt aussetzen möchte!


Land unter in Saisies und Umgebung: Das Gewitter dauert fast eine halbe Stunde. Der Regen
hält noch zwei Tage an.

Und so esse ich mich satt, telefoniere mit meiner Freundin und bringe in Erfahrung, wann die Rennräder der DNFler geliefert werden: "Um 23 Uhr etwa", sagen sie. Noch fast 4 Stunden Zeit. Ich entscheide mich, ins Hotel zu fahren, heiß zu duschen, vielleicht eine Stunde zu schlafen und heute Abend kurz wieder hier her zu kommen.


Sicherheit geht vor: Gespräch mit dem Veranstalter


Als ich nach unten fahren will - der grobe Regenguss ist mittlerweile vorbei, das Gewitter weiter gezogen, es regnet sich ein - fahre ich über verwüstete Straßen. Oben in Saisies hat es einen Teil der Straße, die wir heute morgen abgefahren sind, weggespült.

Weiter unten liegt ein Baum auf der Fahrbahn. Ich baue zusammen mit zwei anderen aus den größeren Splittern eine Art Behelfsbrücke. "Sieh mal an", denke ich mir, "unter diesem Baum als Rennradler? Tot!"


Havoc broke loose ... so sieht es im Col des Saisies aus. Nicht viel anders hat es
demnach im Roseland und den anderen Bergen der Strecke ausgeschaut. Krass!


Wieder zu Hause bitte ich meinen Kontakt beim Veranstalter, mir ein paar Fragen zu beantworten. Das tun sie auch erstaunlich schnell und offen:

Lousy Legs: Wie viele Starter hattet Ihr und wie viele von ihnen konnten die diesjährige Tour du Mont Blanc finishen?

Sportcommunication: Wir haben genau 300 gemeldete Starter laut Liste. Morgens am Start haben wir 260 Transponder über die Matte fahren gehabt - es werden 153 Fahrer als offizielle Finisher geführt.
Das macht also eine DNF-Quote von 42% aus, errechne ich. Da aber auch ich als Finisher (mit einer Zeit, deren Zustandekommen ich mir nicht erklären kann, zumal ich den Transponder aus Versehen mit nach Hause genommen hatte) geführt werde, kann es eigentlich nicht sein, dass 153 Fahrer die volle 330 km Distanz absolviert haben. Ich frage weiter.

Lousy Legs: Als ich im Sturm Saisies verlassen habe, musste ich über fast nicht (mit dem Rennrad) befahrbare Straßen voller Geröll, Äste, Sturzbäche und sogar entwurzelter Bäume fahren - habt Ihr als Veranstalter vor oder während des Gewittersturms etwas unternommen, um die Teilnehmer auf der Strecke zu schützen?

Sportcommunication: Sicherheit geht für uns in jedem Fall vor! Wir haben das Rennen kurz vor 18 Uhr abgebrochen, als der Sturm heranrollte. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt in Bourg Saint Maurice, dem vorletzten Refreshment-Point. Allen, die zu diesem Zeitpunkt noch am letzten Point auf dem Roseland durchkamen, haben wir noch die Freiheit gelassen, bis Saisies zu fahren (35 Kilometer), alle anderen haben wir ab diesem Zeitpunkt an allen Labestationen aus dem Rennen genommen. Ich selbst habe in Bourg Saint Maurice die Leute angehalten - im Roseland-Anstieg sind dann tatsächlich eine Menge Bäume auf die Straße gefallen.

Lousy Legs: In der Abfahrt vom Col de la Forclaz ist mir eine Ambulanz mit Blaulicht entgegen gekommen, dann habe ich einige Fahrer von "drei Unfällen" dort sprechen hören: Gab es im Feld Unfälle?

Sportcommunication: Tatsächlich gab es im Forclaz (als der Regen einsetzte) einen sehr schweren Sturz. Der Radsportler musste mit einem Helikopter in ein Unfallkrankenhaus gebracht werden. Es handelte sich allerdings nicht um einen Teilnehmer aus unserem Feld. Es gab unter unseren Startern einige Stürze, die aber allesamt recht glimpflich ausgingen und die betreffenden Fahrer auch alle jeweils weiterfahren konnten. Soweit ich unsere Rennbeobachter verstanden habe, sind alle Fahrer stets vorsichtig und ohne unnötige Risiken einzugehen gefahren.

Lousy Legs: Letzte Frage, das Feld ist recht klein. Woher rekrutieren sich die Teilnehmer der Tour du Mont Blanc?

Sportcommunication: Wir haben den meisten Anteil, nämlich fast 50%, an französischen Startern. Klar, wir sind ein französisches Rennen. Ungewöhnlich viele, nämlich knapp 30%, kamen aus Belgien, Schweiz 18%, Deutschland 13% und dann einige Starter aus so exotischen Ländern wie Südafrika, den Vereinigten Staaten oder Rußland.

Lousy Legs: Laura, Danke an Dich und das Team für die Beantwortung meiner Fragen!


Hier mit 23 mm Pneus abfahren? Sonst ist aber alles fit, ja?

Ich kann mich, als ich dann endlich gegen 1 Uhr nachts im Bett liege, nur wieder selbst beglückwünschen, diese meine Entscheidung zum DNF getroffen zu haben. Einerseits hätten sie mich sowieso bei der nächsten Labe rausgeholt und andererseits, angesichts des Unwetters und der Straßen, die ich mir aus dem sicheren Auto heraus anschauen musste: No way! Nicht mal im Traum will ich da mit dem Rennrad durch!

Ich werde mich keinem wie auch immer gearteten Erfolgsdruck hinterherwerfen. Vielleicht hätte ich eine noch tollere Heldengeschichte schreiben können, wie ich im dicksten Gewitter-Hagel bei Minusgraden und Regendusche diese 2014er Tour du Mont Blanc finishe. Vielleicht hättet Ihr aber auch nur einen Tweet aus dem Krankenhaus von mir gelesen: "Schöne Grüße mit Lungenentzündung." 

Oder gar eine Todesanzeige in irgend einer Zeitung. 

Dass ich eine Woche nach der TdMB die schwerste Erkältung seit ich Kind war durchleide, mir sogar beide Trommelfelle platzen, bestätigt mich dabei: Geusndheitlich war es das Maximum. Und die ist wichtiger, als eine Medaille und ein Finish im Palmarés.


In meinem Bus waren rund 30 Rennräder von Leuten, die nicht aus eigener Kraft ins Ziel
gekommen sind. Es gab mehrere Busse.

Ich packe mein Rennrad in den Koffer, steige am nächsten Tag in mein Auto, fahre bis Genf und dann entspannte 10 Stunden mit dem Zug bis Hamburg-Altona. Rekapituliere dieses fantastische Rennen, seine sympathischen Teilnehmer und Organisatoren und das Abenteuer, das ich erleben durfte. Ein Gesamtpaket, dessen Ausgang mich mehr als zufrieden und vor allem glücklich stimmt.


Was bleibt. Die Faszination für eines der schönsten Rennen Europas.


Freunde und Familie bedauern mich, als ich zurück komme. Zu unrecht, wie ich finde. Ich habe in der Haute Savoie eine wundervolle Zeit gehabt und konnte an einem der sympathischsten, gleichzeitig härtesten und dabei schönsten Rennen teilnehmen, bei denen ich bisher am Start sein konnte.

Das Konzept, den Mont Blanc zu umrunden, ist ebenso einfach wie genial: Für mich steht nun, eine Woche nach dem Rennen, fest, dass ich 2015 hier wieder am Start stehen werde. Ich freue mich ganz besonders, mit dem Grand Saint Bernard einen wirklich extrem harten und dabei so wunderschönen Pass "entdeckt" zu haben, den ich vorher gar nicht auf dem Schirm hatte.

Ist die Tour du Mont Blanc schaffbar? Für mich? Ich denke noch immer: Ja! Und das möchte ich in 2015 dann auch endlich genau erfahren. Darauf freue ich mich jetzt schon.

Der Grand Saint Bernard - wird mich in noch so manchen heißen Rennrad-Träumen bewegen ... ein Traum-Pass erster Güte!

Ich danke Martin und seinen Eltern, dass Ihr Euch die Zeit genommen und die Mühe gemacht habt, mich am St. Bernard abzufangen. Es hat mir viel Freude gemacht, diese knapp 3 Stunden mit Dir zu verbringen - vielleicht bist du 2015 ja von Anfang an mit von der Partie?

Enttäuscht bin ich von meinem Garmin - und gleichzeitig traurig, dass wir es leider nicht geschafft hatten, mich mit einem DuraCase, dem Produkt unseres neuen Teamsponsors, auszustatten. Dieser Dauerbetrieb im Dauerregen bei sporadischer Sonnenaufhitzung und Temperaturschwankungen von Windchill-Minusgraden bis plus 25 wäre der perfekte Test für Gerät und Funktion gewesen. Na, beim nächsten Rennen. 

Was bleibt?

Der Geschmack im Mund einer perfekten Salami, die ich mir aus Frankreich mitgebracht habe und gerade auf einem frischen Baguette esse - der Geschmack eines perfekten Rennens, einer perfekten Entscheidung und einen tolles Tages. Auch und trotz des nicht so perfekten Wetters.




Hier gibt es meine - wenn auch durch den starken Wassereinbruch im Edge ggf. wenig Vertrauen erweckenden - Garmin-Daten der Tour du Mont Blanc.

Ich bedanke mich beim Veranstalter der Tour du Mont Blanc, Sportcommunication, für die bereitwillige und offenherzige Beantwortung meiner Fragen. Mehr Informationen zum Rennen selbst findet Ihr auf dieser Website.